Unfassbarerweise stellte sich neulich heraus, dass es in Deutschland Gegenden gibt, wo man zu Sankt Martin gar nicht mit seiner Laterne von Haus zu Haus zieht, Menschen mit traditionellem Liedgut entzückt und dafür dann Süßigkeiten abstaubt.
Schlimmer noch. Es wird nicht nur nicht so gemacht, sondern es ist auch völlig unbekannt, dass es woanders so gemacht wird.
Dieses Unwissen muss bekämpft werden und deswegen werde ich jetzt berichten, wie wir damals am Kölner Stadtrand Sankt Martin gefeiert haben UND WIE DAS HOFFENTLICH HEUTE AUCH NOCH GEMACHT WIRD! (’schuldigung, es ging so mit mir durch.)
Jedes Jahr fing es mit dem Laternenbasteln an. Laternen, so habe ich das zumindest verstanden, werden auch andernorts gebastelt, man läuft wohl auch damit rum, und es gibt einen Sankt Martin und ein Martinsfeuer, aber ungefähr da scheinen die Gemeinsamkeiten aufzuhören. Trotzdem muss man ja irgendwo anfangen und vielleicht hilft es dem Verständnis dieser exotischen Rheinlandsbrauchtümer, wenn ich mit etwas Bekanntem und damit Fassbaren beginne.
Laternen also. Im Kindergarten bastelt man welche, später in der Grundschule, spätestens auf dem Gymnasium ist man dann aber selber dafür verantwortlich, aber da lässt die Bereitschaft zum Laternenumzug auch schnell nach, lediglich die Aussicht auf umsonstige Süßigkeiten lassen einen vielleicht noch ein oder zwei Jahre mitmachen, danach ist man endgültig aus der Laternelaufnummer raus. Es sei denn, man ist meine Mutter, aber dazu später.
Meine erste Laterne war ein Hahn. Luftballon aufpusten, schön dick mit Leim und bunten Transparentpapierfetzen bekleben, trocknen lassen, bis es hart ist, dann Luftballon zerstecken, oben muss man eh ein Loch lassen, und dann vorne den Hahnenkopf und hinten den Schwanz aus Pappe. So ungefähr. Ich erinnere nur noch den Hahn und das Haus mit den bunten Fenstern und die Sonnenblumenlaterne.
Wenn die Laternen fertig sind und endlich Sankt Martin ist, dann gibt es den großen Laternenumzug mit Sankt Martin und Kapelle und Feuer und Weckmännern und Kladderadatsch. Kindergarten und Schule hinterm Pferd her, die Kapelle spielt das gesamte Martinsliederrepertoire (so viel isses ja nicht), und dann noch immer dieses eine Weihnachtslied, das anscheinend gar nicht wirklich eins ist, weil es ja immer schon zu Sankt Martin gespielt wird, hier… Dingens… “Lasst uns froh und munter sein”.
Man zieht also mit seiner Laterne so hinter dem Sankt Martin auf seinem Pferd und der Kapelle durch die kleine Siedlung bis zum Martinsfeuer her. Bei uns war das Martinsfeuer im “Wella”. Das Wella war das Wäldchen mitten in der Siedlung, wo auch im Sommer das große Sommerfest war und der Spielplatz und im Mai das Wiesenschaumkraut blühte und man im Winter Schlitten fahren konnte. Im Wella war auch das Martinsfeuer, da stand man dann drumrum und bekam dann irgendwann seinen Weckmann, mit den Rosinenaugen und der fiesen Pfeife, die man, obwohl sie eklig schmeckte, ja doch in den Mund steckte. Wenn man Glück hatte, war noch ein Kirschlolli am Weckmann.
Auch das scheint sich noch einigermaßen mit den Bräuchen anderer Regionen zu decken. Aber das war ja eigentlich alles nur der Pflichtteil. Das Basteln, Rumziehen, Vorm-Feuer-Rumstehen, alles ein notwendiges Übel auf dem Weg zum eigentlichen, wichtigen Teil der ganzen Veranstaltung. Die Kür, der Hauptteil, das alles kam ja jetzt erst noch.
Jetzt durfte man nämlich mit den Eltern und später auch alleine mit den Freunden losziehen und an jeder verdammten Tür klingeln, ein Liedchen vorträllern und dafür Süßigkeiten einheimsen. Gesundheitsbewusste Leute gaben auch gerne mal Mandarinen oder Äpfel, aber insgesamt setzte sich die Beute doch aus Schokoriegeln, Bonbons und ähnlichem Kram zusammen.
Man sang “Laterne, Laterne”, “Ich gehe mit meiner Laterne”, “Durch die Straßen”, “Sankt Martin” und das kölsche Martinslied von däm hellijen Zinter Mätes, meistens immer nur die erste Strophe, weil man ja weiterwollte, aber die erste Strophe von irgendwas wurde tapfer gesungen, dabei die Laterne vorsichtig geschwenkt und nachher der Beutel aufgehalten und dann ging’s zum nächsten Haus. Wir haben damals fast ausschließlich Privathäuser abgeklappert, das ging auch, weil es eben eine kleine Stadtrandsiedlung war, wo eh jeder jeden kannte und die allerhöchsten Hochhäuser drei Etagen hatten mit zwei Parteien pro Etage, also machbar.
Wir hatten übrigens Kerzen in den Laternen, immer, jedes Jahr, bis zum bitteren Ende. Diese kleinen batteriebetriebenen funzeligen Leuchten waren mir als Kind schon höchstsuspekt und das wird auch so bleiben. Nur Kerzen leuchten wirklich schön, mal abgesehen, dass man da gleich lernt, Verantwortung zu übernehmen, schließlich will man ja nicht, dass die Laterne abfackelt. Da lernt man fürs Leben, echt jetzt.
Ich bin dementsprechend auch der Meinung, man hat nur richtig gelebt, wenn einem mindestens einmal eine Laterne abgebrannt ist. Meine Laterne fing vor der Tür von Familie Spottke Feuer und fand ein trauriges Ende. Der Zufall wollte es aber, dass ich genau in diesem Jahr aus mir nicht mehr bekannten Gründen zwei Laternen hatte, die in der Schule gebastelte und die mit meiner Mutter gebastelte. Außerdem waren wir eh anscheinend fast zu Hause, denn Spottkes wohnten ja in unserer Straße. Traurig war es trotzdem und ich glaube, ich habe geweint.
Es gibt auch keine Bilder von mir und meinen Laternen. Fotos von mir in Karnevalskostümen gibt es satt, Laternen schienen irgendwie kein spannendes Fotomotiv zu sein. Dafür wurden die Laternen auf dem Speicher gehortet, denn Wegschmeißen war selbstverständlicherweise verboten, die hatte man schließlich nicht mit Herzblut gebastelt und ganz, ganz vorsichtig durch die Siedlung getragen, um sie danach einfach wegzuwerfen.
Meine Oma, bei der wir ja auch wohnten, hatte zu Sankt Martin immer selbstgebackene Lebkuchen. Dafür war sie bekannt. Bei uns gab es weder Bonbons noch Schokolade noch suspektes Obst. ES GAB LEBKUCHEN! Jedes Jahr gab es Lebkuchen, ganz verlässlich, und angeblich kamen zu uns auch noch die Leute, die schon längst erwachsen waren, aber sich zu Sankt Martin zumindest einen von Omas Lebkuchen ersingen wollten. Am Ende des Abends konnte man im Flur auf der Treppe sitzen und noch ein bisschen mit dabei sein, wenn jemand an der eigenen Tür klingelte, die erste Strophe von irgendwas sang und dafür Lebkuchen bekam. Das scheint mir immer noch ein sehr guter Abschluss für den Sankt-Martins-Zug zu sein. Heute würde ich sagen: Alles richtig gemacht.
Immer wieder mache ich zu Sankt Martin zwei Bleche Lebkuchen in der vollkommen verzweifelten Hoffnung, dass sich mal ein Kind im Großstadtdschungel zu uns verirren könnte. Im Ruhrgebiet. In den vierten Stock. In Düsseldorf stand ich da mit meinen Lebkuchen und musste feststellen, dass die Kinder nur an den Geschäften und Restaurants halt machten. Zu uns wollte keiner, dabei musste man dazu sogar nur in den ersten Stock. Ich war einmal kurz davor, mich mit einem Eimer Lebkuchen vors Haus zu stellen, verwarf die Idee dann aber doch als etwas zu eigentümlich.
Ich weiß nicht, woran es liegt, ob daran, dass wir jetzt eben doch mitten in der Stadt wohnen, wo die höchsten Häuser gerne mehr als drei Etagen haben und ich gerade mal unsere Nachbarn kenne (immerhin). Vielleicht liegt es auch an der Region, vielleicht sind die Zeiten auch vorbei, und man macht das heute nicht mehr so. Halloween lehne ich ab, für ein Kind mit Laterne würde ich sicher etwas für den Süßigkeitenbeutel finden. Aber es kommt ja keins.
Und mit meiner Mutter, das war so: Die zog nämlich, da war sie schon längst auf dem Gymnasium, mit ein paar Freundinnen los, mit einer Gitarre und einem traurigen selbstgeschriebenen Sankt-Martins-Lied und dann kamen sie aber nur bis zum Siedlungsbäcker Zapp und wurden da zur Belohnung für das schöne Lied von den Bäckereifachverkäuferinnen mit Kurzen abgefüllt. Aber die Geschichte erzählt sie natürlich selbst viel besser, sie war schließlich dabei. Ich weiß noch nicht mal mehr genau, wie’s ausging, aber ich glaube die Geschichte endet üblicherweise mit dem Satz “Der Sylvia geht’s nicht so gut”.
So ist das mit den exotischen Bräuchen im Rheinland. Und im Februar erzähl ich dann, wie das mit Karneval funktioniert.