Literarische Jugendsünden: Jonathan

Meine intensivste Schreibphase hatte ich so grob zwischen 15 und 19. Da habe ich tatsächlich eine ganze Sammlung Kurzgeschichten und anderweitigen Kram rausgehauen. Ich hatte sogar eine alte Schreibmaschine, auf der ich sehr intellektuös rumgeklackert habe, obwohl zwei Räume weiter ein durchaus funktionstüchtiger Computer stand, mit dem das natürlich viel einfach gegangen wäre. Oft trug ich dabei einen Hut. Fragensenich.

In dieser Zeit entstand auch die Geschichte, mit der ich dann in der elften Klasse prompt den Schreibwettbewerb der Schuld gewann. Das Thema war „Zeit“, ich reichte zwei Geschichten ein. Die eine gewann den dritten Preis, die zweite den ersten. Im nächsten Jahr durfte man nur noch eine Geschichte einreichen. Ich reichte ein und gewann selbstverständlich überhaupt nichts, denn während ich beim ersten Mal einfach spontan etwas geschrieben hatte und mir keinerlei Chancen ausgerechnet hatte, versuchte ich beim zweiten Mal irgendeinem erfundenen literarischen Anspruch zu genügen. Es musste scheitern.

Die Geschichte, die damals den ersten Preis gewann, die mag ich auch heute noch. Auch wenn ich heute nicht mehr alles so schreiben würde, schon allein, weil ich nicht mehr so übelst von J.D. Salinger beeinflusst bin. Nichts gegen Herrn Salinger, der schreibt tolle Sachen, man muss nur eben nicht genauso schreiben wollen. Aber so habe ich das damals geschrieben, mit 15 oder 16 und deswegen ist das auch gut so.

Und wer wissen will, womit man 1996 so Schulschreibwettbewerbe gewinnen konnte, der klicke sich weiter zur Geschichte.

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JONATHAN

Ich wollte dich nur daran erinnern, wie du Jonathan kennengelernt hast. Vielleicht weißt du es sogar noch, ich bin mir nicht sicher, du hast schon lange nichts mehr von dir hören lassen.

 

Wir sind immer im Park gewesen, die ganzen Jahre über, bis du in die Schule kamst. Wir waren sogar im Herbst da, wenn es windig war und es regnete, und im Winter, wenn es so eisig war, dass wir kaum etwas sehen konnten durch die ganzen Schals und Kapuzen, in die ich dich und mich gestopft hatte, damit keiner eine Erkältung bekam. Wir fütterten die Enten und Schwäne, und du gewannst jedes Mal beim Wettlaufen von der Kastanie bis zum Teich. Jetzt kann ich dir sagen, dass ich geschummelt habe, damit du gewinnst – ich bin extra langsam gelaufen. Du hast alle Enten einen Namen gegeben, aber die Schwäne mochtest du nicht. Du hast mit ihnen geschimpft, wenn sie deiner Lieblingsente einen Brotkrumen weggeschnappt haben. Einmal hatten sie Küken, und ich musste dir mühsam erklären, dass wir kein Küken mit nach Hause nehmen konnten. Ich weiß nicht, ob du es je eingesehen hast.

Es war kurz nach deinem Geburtstag, Ende September, und das Wetter war erstaunlich schön. Ich saß auf der Bank und sah dir zu, wie du am Teich standest und die Enten füttertest. Ich wollte mit dir Kastanien sammeln, denn ich hatte dir versprochen, dass ich dir zeige, wie man aus Kastanien Tiere bastelt.

Als du kein Brot mehr hattest, kamst du zu mir und wolltest mit mir Murmeln spielen. Ich grub dir ein Loch in den Weg und wir rollten abwechselnd die Murmeln, die du zu deinem Geburtstag bekommen hattest. Ich musste sie dir ständig nachzählen, weil du Angst hattest, eine zu verlieren. Es waren 63 Stück. Ich bin sicher, du hättest gewonnen, aber wir konnten dieses Spiel nie zu Ende spielen.

Das erste, was ich von der Frau sah, war ein Zipfel ihres Mantels und ihre Schuhe. Das erste, was du sahst, war ihr Hund. Du hattest höllische Angst vor Hunden und hast dich an mein Bein geklammert und dich an mich gedrückt. Der Hund lief wie verrückt herum und bellte, aber er tat dir nichts, und trotzdem riefst du unentwegt „Tu ihn weg! Tu den Hund weg!“ und beide machtet ihr mich total verrückt – du und der Hund.

„Er tut doch nichts.“, sagte die Frau, aber das hörtest du nicht. Du jammertest und heultest die ganze Zeit und ich versuchte, dich zu beruhigen.

„Komm her.“, sagte die Frau etwas lauter, und der Hund gehorchte. Du warst ganz erstaunt, als du das bemerktest. Du sahst auf und bekamst gerade rechtzeitig mit, wie der Hund sich auf Aufforderung setzte. Das erstaunte dich noch mehr, und vor lauter Erstaunen hast du mich losgelassen. Ich stand auf. Du auch. Dein Mund stand offen, wie bei allen kleinen Jungen, die erstaunt sind und nicht mehr wissen, was sie von etwas halten sollen.

Wir standen beide da, und es würde mich nicht wundern, wenn wir sie beide im gleichen Moment sahen. Die Frau, der der Hund gehörte. Und das war das Allerseltsamste für dich, denn so was hattest du wirklich noch nie gesehen.

Sie lächelte und sie hatte blaue Augen mit kleinen braunen Flecken. Das war das erste, was ich sah. Was dir als erstes auffiel, weiß ich nicht, aber ich glaube nicht, dass dir auffiel, dass sie lächelte, und erst recht nicht ihre Augen.

Sie war steinalt, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass sie schon zu diesem Zeitpunkt 200 Jahre alt war. Sie sah aus wie eine Schildkröte, wirklich, vielleicht ist dir das auch aufgefallen. Vielleicht erinnerst du dich auch an diesen Tag, ich weiß es nicht. Sie war klein und hatte schneeweiße Haare – natürlich – und sie hatte einen Gehstock an die Bank gelehnt. Aber sie sah so aufgeweckt und klug aus, das warf mich um.

Sie lachte und sah dich an. „Na, Kleiner“, sagte sie zu dir. „Vor meinem Kleinen brauchst du keine Angst haben, der tut keiner Fliege was zuleide.“

„Siehst du“, sagte ich, und stieß dich an. „Stell dich doch nicht immer so an.“

Du sagtest nichts. Du wusstest nicht, was interessanter war: der Hund oder die Frau. Ich glaube, letztendlich hast du dich für die Frau entschieden.

„Der kann sogar Pfötchen geben“, sagte die Frau stolz.

„Probier’s aus“, sagte ich leise. „Los, probier’s aus. Ich pass schon auf, dass er dir nichts tut.“

Aber du wolltest nicht. „Du“, sagtest du. „Mach du das.“

Und ich lächelte der Frau zu. Ich glaube, sie verstand genau, was mit dir los war. Ich beugte mich runter zu dem Hund, und sie sagte: „Gib Pfötchen, Kleiner.“

Er gehorchte.

Ich habe dich nicht beobachtet, als ich da vornübergebeugt stand und mir ein kleiner Hund seine Pfote in die Hand legte, aber ich glaube, das hat dich schwer beeindruckt.

„Schön macht er das, nicht?“, hörte ich die Frau sagen. Ich nickte und sah auf. Sie sah mich an. sie hatte das runzeligste Gesicht, dass ich je gesehen habe, und vielleicht war sie tatsächlich 200 Jahre alt, auch wenn das natürlich Unsinn ist, das weißt du genau.

Ich kam zu dir. „Komm, Kleiner“, sagte ich. Ich schlang meinen Arm um deinen Bauch und trug dich auf die Bank, setzte dich neben die Frau, und mich neben dich. Das war dir aber viel zu unheimlich und entschieden zu fremd, deswegen krochst du auf meinen Schoß und verstecktest dich hinter meinem Mantel.

Ich weiß nicht, ob du mitbekommen hast, was wir redeten, aber ich glaube schon. Du warst der neugierigste, gewiefteste und schlauste kleine Junge, den ich kannte, du wusstest genau, worüber wir sprachen, das ist mal sicher.

Nachdem sie gegangen war, kamst du wieder aus deinem Mantelversteck hervor. Ich hob dich von meinem Schoß runter und stellte dich auf den Boden.

„Mein Gott, bist du ängstlich!“ sagte ich, aber ich meinte es nicht böse.

„Was ist mit ihr?“ fragtest du.

„Wie, was ist mit ihr?“

„WAS IST MIT IHR???“

„Was um Himmels Willen meinst du damit?“ fragte ich. Du warst auch der rätselhafteste kleine Junge, den ich kannte.

„Wieso sieht sie aus? Was ist mit ihren Haaren? Und warum ist sie so verschrumpelt?“

Ich sah dich an. Ich hob dich hoch und stellte dich auf die Bank, stand auf, und so waren wir gleich groß.

„Sie ist alt„, sagte ich.

Natürlich verstandest du das nicht. Damit konntest du überhaupt nichts anfangen. Du wusstest noch nicht einmal, dass man überhaupt älter werden konnte. Du warst vier.

„Oh“, sagtest du, und ich merkte, dass du noch immer nicht Bescheid wusstest.

„Wie alt bist du?“ fragte ich. Das hast du verstanden. Die Frage kanntest du, und du wusstest, wie du sie beantworten solltest.

„So“, sagtest du, und hieltst mir deine rechte Hand entgegen. Du hattest den Daumen eingeknickt, so konntest du zeigen, dass du vier Jahre alt warst.

„Richtig.“, sagte ich. Jetzt wurde es komplizierter. Ich musste dir erklären, was das alles bedeutete. Ich überlegte zu lange.

„Was. Ist. Mit Ihr?“, fragtest du.

„Weißt du, Kleiner…“, begann ich. Und dann begann ich, dir zu erklären, was Älterwerden bedeutete, und das wir alle älter wurden, und dass wir alle mal vier Jahre gewesen waren, und an dieser Stelle hielt ich dir meine Hand mit dem eingeknickten Daumen entgegen, da war für dich alles klar. Ich glaube nicht, dass du alles verstanden hattest, aber das war auch noch nicht nötig, weil das allergrößte Problem für uns noch gar nicht aufgetaucht war. Wir sammelten deine Murmeln auf, und ich zählte sie nach – natürlich waren sie alle noch da -, und dann versprach ich dir, morgen mit dir Kastanien zu sammeln, und wir gingen nach Hause.

Am nächsten Tag trafen wir sie wieder. Sie war schon vor uns da, und saß auf der Bank. Diesmal hattest du keine Angst, jetzt wusstest du, dass sie alt war, und der Hund, na gut, den übersahst du einfach so gut du konntest.

„Da bist du ja wieder“, sagte sie, als sie dich sah. „Gekommen, um Pfötchen zu geben?“. Sie gluckste und amüsierte sich königlich über ihren Scherz, aber du fandest das gar nicht lustig.

„Nicht böse sein“, sagte sie entschuldigend. „Komm mal her, ich zeig dir was.“

Natürlich wolltest du nicht alleine kommen, ich musste hinter dir gehen und dich beschützen.

Sie holte ein Portemonnaie aus ihrem Mantel und daraus ein uraltes Foto. „Sieh mal her“, sagte sie. „Das bin ich.“

Und sie zeigte auf ein kleines Mädchen. Es war eines dieser uralten Fotos, die früher zu Weihnachten und Geburtstagen an irgendwelche Verwandten geschickt wurden. „Da bin ich sieben“, sagte sie.

„Ein bisschen älter als du“, flüsterte ich dir zu, weil du noch keine Ahnung hattest von Zahlen.

„Bist du da zur Schule gegangen?“, fragtest du.

„Ja.“, sagte sie, und da war alles für dich in Ordnung. Das konntest du dir vorstellen.

Du sahst dir das Foto an. Neben dem Mädchen stand ein kleiner Junge, und ich fand, er sah dir unheimlich ähnlich.

„Wer ist das?“ fragtest du.

„Oh…“. Ihre Augen leuchteten. „Das ist Jonathan. Er war der famoseste Bruder der ganzen Welt.“

Du sahst dir den Jungen an. Er war vielleicht so alt wie du, und er sah genauso schlau aus wie du, genauso neugierig und genauso rätselhaft.

„Wo ist Jothan denn?“ fragtest du, und ich ahnte schon, dass jetzt Ende sein würde mit deiner heilen Welt, dass jetzt die großen Probleme der Welt auf dich einstürzen würden, schneller als wir beide es wollten.

Jonathan, Schätzchen“, sagte sie. Sie lächelte immer noch. „Der ist nicht mehr auf dieser Welt. Er ist schon gestorben, da warst du noch gar nicht auf der Welt.“

Da war Schluss mit ‚Alles-Klar-Wir-Haben-Alles-Verstanden‘, jetzt ging es los.

„Wo ist Jothan?“ fragtest du wieder.

„Kleiner, Jonathan ist tot“, sagte sie.

Bums. Tot. Jetzt wusstest du überhaupt nicht mehr, was los war. Eigentlich wolltest du doch nur wissen, wo du diesen kleinen Jungen finden konntest. Was war denn daran so schwer?

Ich wusste genauso wenig, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht, wie ich dir erklären sollte, dass Menschen sterben mussten, du und ich auch. Und Jonathan auch.

„Kleiner“, sagte die Frau. „Seine Zeit war gekommen. Ich bin uralt, er war alt. Er ist einfach gestorben. Eingeschlafen.“

„Eingeschlafen?“ Das kanntest du. Jeder schläft. Aber wo war Jothan?

„Ja, Schätzchen“, sagte sie. „Eingeschlafen und nie mehr aufgewacht. Er ist gestorben.“

Da war Schluss mit lustig. Einschlafen war in Ordnung. Einschlafen und nie mehr Aufwachen war alles andere als in Ordnung.

Ich lächelte ihr zu.

„Kleiner“, sagte ich. „Gehen wir nach Hause. Ich erklär dir das noch mal, in Ordnung?“

Du hast nichts gesagt. Nur überlegt.

Ich hab es dir noch einmal erklärt. Ich habe dir erklärt, dass wir alle sterben müssen, wenn wir erst mal alt sind. Dass man nichts dagegen machen kann, und dass es überhaupt nicht schlimm ist. Und ich war so dumm zu glauben, das würde reichen.

 

Du wolltest nicht mehr einschlafen. Du hattest Angst, zu sterben. „Schatz, wir sterben alle erst, wenn wir alt sind. Du bist erst vier“, sagte ich.

„Wie lange dauert das noch?“ fragtest du.

„Ewig“, sagte ich.

„Wie lange ist ewig?“

„Länger als du denken kannst, glaub mir.“

„Ist das wahr?“

„Sicher ist das wahr.“

Aber ich musste noch so lange bei dir liegenbleiben, bist du eingeschlafen warst. Es war noch lange nicht alles in Ordnung.

Wir trafen sie noch oft und jedes Mal wurdest du aufgeschlossener. Die Sache mit Jonathan hattest du verstanden – dachten wir jedenfalls – und am liebsten hörtest du Geschichten von Jonathan und sie kannte so viele. Ich weiß nicht, ob du ein paar behalten hast, aber ich hoffe es für dich.

Dann kam sie nicht mehr. Ich glaube, sie ist einfach gestorben, und ich glaube sogar, das hast du verstanden. Es tat mir so schrecklich leid. Für sie und für dich, und auch für mich. Aber ich stellte mir vor, dass sie Jonathan wiedertreffen würde, und das machte es irgendwie leichter. Du hast nie nach ihr gefragt, aber dann hast du mich eines Tages überrascht.

„Ich muss dir etwas zeigen“, sagtest du. Du standest im Türrahmen und sahst so schrecklich ernst aus, dass ich dachte, du wärst ganz furchtbar krank.

„Was denn?“ fragte ich.

„Schau mal.“ Du strecktest mir deine Hand entgegen. Du hattest das Foto von Jonathan in der Hand. Ihr Foto.

„Wo hast du das her?“ fragte ich.

„Sie hat es mir gegeben“, sagtest du. Ich glaubte dir. Du konntest mich noch nicht anlügen.

„Wann?“

„Weiß nicht mehr.“

Wie sahen uns das Bild zusammen an, und dann fragtest du mich genau das, was ich mich schon oft gefragt hatte: „Ist sie jetzt auch da, wo Jothan ist?“

Ich drückte dich. Du warst so schrecklich schlau.

„Bestimmt“, sagte ich. „Ja, ich glaube schon. Sie ist jetzt da, wo Jothan ist.“

„In Ordnung“, sagtest du. Du nahmst das Foto und gingst aus dem Zimmer.

 

Ewig ist nicht länger als man denken kann. Ich hoffe, dass du mich irgendwann besuchen kommst.

Ich habe alle deine Sachen in Kisten gepackt und in den Keller gebracht. Jonathans Foto schicke ich dir jetzt. Ich bin sicher, du kannst es gebrauchen. Ich hätte es auch behalten, aber ich glaube, du kannst es besser brauchen als ich. Das glaube ich wirklich.

8 Antworten auf „Literarische Jugendsünden: Jonathan“

  1. „Schreibwettbewerb der Schuld“ – bestimmt ein Tippfehler (?), aber find‘ ich gut.

    Die Geschichte auch. Wobei, naja, geschrieben mit 15 oder 16 eben, etwas anstrengend.

    1. Hihihi. Da sieht man mal, irgendein Fehler geht eben immer durch. Und ja, man darf das eigentlich auch nur mit der Hintergrundinformation lesen, in welchem Alter die Geschichte geschrieben wurde. (Deswegen hab ich’s ja gesagt.)

  2. Wow, schön.
    Und man muss nicht dazu sagen, wie alt du warst, als du sie geschrieben hast, die ist einfach so schön. Ich fänd sie genauso toll, wenn du sie gestern geschrieben hättest.

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