Morgens im Zug

Als der Mann mich anspricht, höre ich den Akzent, kann ihn aber nicht einordnen. Niederländer denke ich, vielleicht, oder Engländer, auf jeden Fall nicht von hier.

“Ich bin ja nur zu Gast hier”, sagt er entschuldigend, als ich ihm erkläre, was das mit den Reservierungen auf sich hat.

Zwischen Essen und Duisburg steht er kurz auf und steht ein bisschen im Gang, wegen seinem Rücken, sagt er, der schmerzt, wenn zu zu lange sitzt. Dann holt er sein Handy raus, ein kleines einfaches Samsungding, die Batterie ist fast leer. 17 Euro hat er da noch drauf, die kann er ja heute noch vertelefonieren, sagt er. Aber die Batterie ist eben fast leer.

“Wenn Sie das Kabel dabei haben, dann können wir das hier aufladen”, sage ich. Er überlegt ein bisschen. “Ach ja”, sagt er dann. “Wenn ich sowieso noch bis zum Flughafen fahre, dann kann ich jetzt auch noch das Kabel raussuchen.”

Er holt seinen Koffer vom Gepäckfach, kramt und kramt, ich sehe weiße Dosen und Flaschen, vermutlich Medikamente, ich kenne mich ja nicht aus. Dann hat er das Kabel irgendwo rausgekramt, ich stecke es bei mir in die Steckdose und dann ans Handy und das Handy fängt an zu laden.

“Ich wollte noch meine Schwester anrufen”, sagt er dann, nimmt das Handy und wählt eine Nummer, die er auf einem Zettel notiert hat. “Hallo, ist da M.?” fragt er ins Telefon, aber da ist keine M. Verwählt, sagt er. Ich gucke in der Anrufhistorie und vergleiche mit der Nummer.

“Da haben Sie eine 7 vergessen”, sage ich. “Hier, die 7 hier.” Und ich zeige auf den Zettel mit der Telefonnummer. “Soll ich mal für Sie wählen?”

Ich wähle, er nimmt das Telefon und hält es kurz darauf wieder fast entschuldigend weg. “Schlechter Empfang”, sagt er.

“Sie können es auch in Köln noch mal probieren”, sage ich. “Danach wird’s noch schlechter.”

“Ach, ich ruf einfach vom Flughafen an”, sagt er. “Ich hab ja genug Zeit.”

“Wissen Sie”, sagt er. “Ich habe ja Krebs, mit Chemo und so und das ist jetzt meine letzte Reise nach Deutschland und ich habe jetzt noch gar keine Fahrkarte für heute. Ich wollte gestern noch umbuchen, aber am Sonntag geht das nicht. Ich habe eine Schwester, die wohnt in Dortmund und zwei Brüder, die wohnen im Norden. Eigentlich wollte ich vier Wochen bleiben, aber dann habe ich mich mit meinem Bruder gestritten und jetzt fliege ich nach einer Woche nach Hause. Ich hab mir gesagt, sowas muss ich nicht haben. Ich war schon auf dem Weg zum Flughafen und dann hat meine Schwester angerufen und gesagt, bleib doch noch ein paar Tage bei mir und dann war ich noch bei meiner Schwester.”

Wir fahren jetzt durch den Westerwald. “280 Kilometer pro Stunde”, sage ich, weil er kurz vorher noch meinte, der Zug wäre ja schon eher ein Bummelzug. Er nickt anerkennend. Doch kein Bummelzug.

“Aber ich habe jetzt gar keine Fahrkarte, aber das ist nicht schlimm. Für eine Person, da werden sie wohl noch Platz haben und ansonsten bleibe ich eben ein paar Tage in Frankfurt, dann nehm ich mir ein Hotel am Flughafen.”

“Wo kommen Sie denn her in Australien?” frage ich.

“Aus Perth”, sagt er, und malt mir Australien auf den Reiseplan. “Da ist Perth und da ist Adelaide und da ist Sydney und dann kann man da noch ganz oben nach Darwin. Von Perth nach Adelaide sind es 1500 Kilometer, kann man alles mit dem Zug fahren, bis oben hin nach Darwin, aber da ist Schluss.”

“Und was haben Sie in Australien gemacht?” frage ich weiter.

“Ach, wissen Sie, ich war ja Seemann, und da bin ich Perth einfach abgehauen und geblieben. Das war 1961, da ging das noch, da hatten sie in Australien gerade mal acht Millionen Menschen. Jetzt geht das nicht mehr so einfach, es sei denn Sie haben den richtigen Beruf. Schweißer oder Elektriker. Oder Ingenieur. Wenn Sie den richtigen Beruf haben, ist das auch kein Problem. Aber 1961, da war das alles noch egal. Da konnten Sie auf der Straße leben oder Hippie sein.”

Wir düsen weiter durch den Westerwald.

“Wenn meine Schwester mich besuchen kommt, dann fahren wir auch noch mal durch Australien. Sie hat gesagt, sie kommt, sobald sie aufhört zu arbeiten.”

Am Flughafen helfe ich mit dem Koffer und dann geben wir uns die Hand und ich muss wieder zurück in den Zug und er muss auch zurück. Erst nach Singapur und dann nach Australien. Nach Perth, wo er vor 52 Jahren einfach vom Schiff gegangen und dageblieben ist.

“Hallo, mein Name ist Anne Schüßler, ich suche jemanden, der bei Ihnen arbeitet und M. heißt.”

“Ja, das bin ich.”

“Ich wollte nur sagen, dass Ihr Bruder zumindest gut am Flughafen angekommen ist. Er wollte Sie auch noch anrufen, aber ich hab mir ein bisschen Sorgen gemacht, dass er das mit dem Handy nicht hinkriegt.”

“Oh, das ist gut. Ich hab ihm gesagt, er soll sich unbedingt melden. Wissen Sie, er ist schwer krank.”

Ja. Weiß ich.

Dann sagen wir noch ein paar Sätze und ich sage, dass ich vielleicht in ein paar Tagen noch mal anrufe, um zu fragen, ob er gut zu Hause angekommen ist. Einmal hängt sie im schönsten Ruhrpottdeutsch “woll?” an einen Satz, und dann legen wir auf.

Eigentlich wollte ich ja im Zug nur lesen. Statt dessen musste ich immer wieder aufpassen, nicht spontan zu weinen anzufangen.

Australien

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