Cinderella von Sergei Prokofjew im Aaltotheater in Essen

Ob sie mich mit Karten fürs Ballett locken könnte, fragt Inkanina mich auf Twitter. Öh, ja, sage ich, denn ich mache ja bekanntlich fast alles mit. Also, zwei Karten hätte sie für die Premiere von Prokofjews Cinderella, aber an dem Tag könnte sie leider nicht, ich könnte also beide haben und einfach jemanden mitnehmen.

Da bin ich ja schon überfordert. Es ist schwer genug, die Leute in die Oper zu bekommen und da wird immerhin noch gesungen, aber ins Ballett? Ich habe doch selber keine Ahnung von Ballett, ich war noch nie im Ballett, ich kenne auch kaum Leute, bei denen ich denken würde, dass sie ins Ballett gehen wollen würden. Aber ich finde doch noch jemanden, Brooke hat nicht nur Lust, sondern sogar Zeit und weil an dem Wochenende der BVB im Ruhrgebiet spielt, sogar Gelegenheit, nach Essen zu kommen. Ansonsten wäre ich auch alleine gegangen, ein bisschen ist es ja auch egal, man sitzt ja die meiste Zeit sowieso rum und darf sich nicht unterhalten, aber wenn ich schon zwei Karten habe, kann man das ja auch ausnutzen.

Ballett also. Kenn ich gar nicht. Ich hab nur Bunheads geguckt und geliebt und innerlich ein bisschen rumgewütet, als es abgesetzt wurde. Bei Bunheads hatte ich das erste Mal das Gefühl, ich könnte Tanzerei ernsthaft interessant finden. Da kommt so eine Einladung gerade recht und ich kann jetzt überprüfen, ob ich das wirklich interessant finde oder eher so theoretisch und im Rahmen einer Amy-Sherman-Palladino-Serie.

Die Zeitangaben sind widersprüchlich, im Internet steht etwas anderes als auf der Karte, also nehme ich mal den früheren Termin und bekomme um kurz vor sieben noch von einem streikenden Menschen einen Zettel in die Hand gedrückt, weil das Orchester streikt. Er beruhigt mich aber, es würde selbstverständlich schon gespielt werden, aber vielleicht eben mit ein bisschen Verzögerung.

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Brooke hat den Haupteingang auch gefunden, schnell den Mantel abgeben und dann gongt es auch schon und wir fallen erstmal unangenehm auf, weil wir von der falschen Seite in den Saal kommen und uns an sehr vielen Menschen vorbei auf unsere ziemlich guten Plätze drängeln müssen. Es wird dunkel, der Vorhang geht auf und wir sehen die Vorgeschichte von Cinderella in wenigen Bildern. Cinderella mit ihren Eltern. Dunkel. Cinderella, die ihre Mutter anguckt. Dunkel. Cinderella nur mit ihrem Vater. Dunkel. Vorhang. Soviel dazu. Was lernen wir daraus? Es war einmal eine glückliche Familie, aber dann starb die Mutter und Vater und Tochter bleiben übrig.

Streikpause gibt’s auch nicht. Sowas.

Generell ist es gut, dass wir hier Cinderella gucken und nicht irgendwas anderes. Hier kenne ich zumindest die Story und kann mir das, was auf der Bühne passiert recht gut zusammeninterpretieren. Die drei Tänzer in den grauen Kleidern, die da etwas grotesk über die Bühne tanzen, das sind die Stiefmutter und die Stiefschwestern. Ich muss ein paar Mal gucken, aber ja, das sind Männer, die diese Rollen spielen. Im Nachhinein lese ich, dass das oft so gemacht wird, inmitten der ganzen Eigenheiten dieser modernen Inszenierung ist das also beinahe traditionell.

Da ich mich mit Tanzen aber gar nicht auskenne, kann ich den Grad zwischen klassischer und moderner Inszenierung nur erahnen. Eher modern, aber eben mit klassischen Elementen, die allerdings rar gesät sind. Tutu trägt hier keiner, auf Spitze wird nur selten getanzt, aber dazu kommen wir sowieso später. Cinderellas Vater trägt Anzug und schleppt eine Orange mit sich rum, Cinderella tanz barfuß und trägt ein einfaches blaues Kleid. Auf der Bühne stehen weiße Möbel schräg im Boden eingesunken, ich habe spontane Alice-im-Wunderland-Assoziationen. Und ja, es ist ein bisschen anstrengend, für meine erste Balletterfahrung hätte es vielleicht doch etwas klassischer sein können, aber dann eben nicht. Das Leben ist kein Wunschkonzert, noch nicht mal, wenn man ins Tanztheater geht.

Um noch etwas weniger klassisch zu sein, wird auf einmal ein grüner Rasenstreifen ausgerollt und dann hört das Orchester auf zu spielen und es erklingt „Because of You“ von Les Baxter. Noch einmal darf Cinderellas Mutter auftreten und mit Mann und Tochter zu maximal-kitschiger Musik der fünfziger Jahre tanzen. Und zwar, jetzt kommt’s: Auf Spitze. Mit Spitzentanz – oder wie wir Ballettexperten sagen: en pointe – ist das nämlich so: Fast alles, was die Leute da auf der Bühne machen, kann ich irgendwie nachvollziehen. Ich kann das zwar nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass man das kann, wenn man es halt lange genug macht und oft genug übt. Spagat verstehe ich. Luftsprünge verstehe ich. Hebefiguren verstehe ich, Dirty Dancing ist da nicht unschuldig. Verstehe ich alles. Ich kann’s nicht, aber mein Gehirn hat kein Problem damit, das irgendwie zu verstehen.

Spitzentanz verstehe ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll, das ist vollkommen abgefahren, was die da macht. Das kann doch gar nicht gehen, wie soll das gehen, das KANN nicht gehen. Ich starre also fasziniert auf die Bühne und bin überzeugt davon, dass das überhaupt nicht funktionieren kann, was die da macht. Leider gibt es heute Abend viel zu wenig Spitzentanz, aber vielleicht ist das auch gut so, sonst würde mein Hirn ob dieser Ungeheuerlichkeit noch durchdrehen. Ich befürchte auch, dass sich diese Faszination auf Dauer ein bisschen abnutzt, irgendwann sieht man wahrscheinlich auch als Nichttänzer ein, dass das irgendwie gehen muss, wenn es dauernd jemand tut, aber noch bin ich nicht soweit. Glücklicherweise. So kann ich noch ein bisschen weiter fasziniert auf die Bühne starren.

Dann setzt wieder das Orchester ein und die grotesk-groben Mannweiber bereiten sich schon mal auf den Ball vor und setzen nebenbei alles daran, Cinderella und ihren Vater zu trennen. Da wird weggetragen, in den Weg gestellt und abgelenkt und zwar immer sehr gemein. Ein fröhliches Leben hat Cinderella da nicht, das sieht man schon und außerdem weiß man das ja auch aus dem Märchen.

Dann kommt ein Bote mit einer Taube und einem roten Kleid für Cinderella und es wird ein bisschen surreal. Die Taube wird irgendwie an einer grünen Wand befestigt und an der Wand wird auch rumgetanzt. Vor allem gibt es dazu keine Musik, sondern nur ein seltsames Kratzgeräusch. Sehr lange geht das so. Vielleicht ist das der Orchesterstreik, wahrscheinlich gehört es einfach zur Inszenierung. Ich könnte das besser sagen, wenn ich die Musik kennen würde, tu ich aber nicht. Also nehmen wir dieses Zwischenspiel hin, wundern uns ein bisschen, denken „Tjo, modern halt“ und dann Vorhang, Pause.

Wir nutzen die Pause, um Programmhefte zu besorgen und ein bisschen durchs Aalto zu laufen, das Brooke von innen noch gar nicht kennt. Auf den Balkon kann man leider in dieser Jahreszeit nicht mehr, dabei ist das für mich eins der Highlights des Aaltos. Im Sommer hier zu stehen, während draußen im Stadtpark die Leute grillen, das ist toll, das ist so Ruhrgebiet, so Essen. Hochkultur und Picknick direkt nebeneinander, das geht nicht überall.

Nach der Pause sind wir jedenfalls wieder rechtzeitig im Saal und diesmal auch von der richtigen Seite. Der zweite Akt kommt ebenso modern daher, schon vom Bühnenbild. Ein großer Berg aus einer riesigen Landkarte steht da und oben drauf ein kleines Schloss. Es geht also zum Ball und wie sich das für einen Ball gehört kommen ordentlich Leute zum Tanzen, unter anderem auch Stiefmutter mit ihren Töchtern und natürlich der Prinz. Die Stieftöchter können den Prinzen leider nicht mit ihren Tanzkünsten überzeugen, und dann kommt natürlich Cinderella und kann sehr wohl überzeugen. Der Rest der Geschichte ist hinlänglich bekannt. Es wird getanzt, verliebt, es wird Mitternacht und Cinderella kann nur unter Schuhverlust schnell genug vom Schloss verschwinden.

Nachdem der Vorhang zum dritten Akt aufgegangen ist, sehen wir in eine Art Montage, wie der Prinz mit dem verlorenen Schuh einmal um die Welt reist, um die zum Schuh gehörende Frau zu finden und dabei wenig erfolgreich ist. In jedem Land eine neue Cinderella in einem hübschen roten Kleid, von denen wirklich eines hübscher ist als das andere und ich mich frage, ob man wohl mal die Garderobe plündern könnte, aber keiner passt der Schuh, trotz ausdauernden Tanzens.

Schließlich kommt er wieder bei Cinderella vorbei, aber die ist natürlich erstmal nicht da, dafür sind die beiden Stiefschwestern umso erpichter darauf, den Schuh anzuprobieren. Passt aber nicht. Die Stiefmutter probiert es auch, und überzeugt den Prinzen dabei fast, als Cinderella das ganze mitbekommt und fürchterlich beleidigt ist, weil der Prinz auf ihre Stiefmutter beinahe reingefallen wäre. Fast schon ist die Liebesgeschichte vorbei, aber sie besinnt sich dann doch noch eines Besseren und kommt zu ihrem Prinzen zurück. Es folgt ein sehr, sehr langer Pas de deux während dem Cinderella immer wieder fast den Schuh anprobiert, und dann doch nicht. Bein ausgestreckt zum Schuh hin, man denkt schon „So. Jetzt aber.“ und wieder nichts. Es ist zum verrückt werden. Ich bin kurz davor „JETZT ZIEH HALT DEN VERDAMMTEN SCHUH ENDLICH AN!“ zu rufen, ich vermute aber, das kommt nicht so gut. Wahrscheinlich ist das richtig, dass sich das so lang hinzieht, es macht mich nur etwas nervös.

Dann aber: Schuh an, der Prinz hat Gewissheit, jetzt schneit es noch ein bisschen auf die Möbel, das ist wirklich sehr hübsch, ich mag sowas. Der Prinz und Cinderella dürfen sich ins Happy End tanzen, Vorhang, aus, Applaus. Viel Applaus. Sehr viel Applaus. Ist immerhin ja auch Premiere. Alle Tänzer verbeugen sich, dann kommen noch Choreografen, Dirigenten, und was weiß ich noch auf die Bühne und dürfen sich verbeugen und es wird applaudiert und gejubelt und dann ist vorbei.

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Mein erstes Ballett. Es hätte etwas klassischer sein können, einfach, um überhaupt erstmal damit warm zu werden, aber so war es auch sehr gut. Zwischendurch versuchen Brooke und ich uns zu erklären, was das jetzt schon wieder soll und warum zum Beispiel Männer Frauenrollen spielen. Ich mache ein paar Erklärungsversuche, die ich aber mit „… but I’m just making wild assumptions here“ ins richtige Verhältnis rücke. Trotzdem: Schön war’s. Ich mag das. Das ist ja auch eine Feststellung, dass man gerne Leuten zuguckt, die sich auf der Bühne in interessanten Kostümen zu schöner Musik bewegen. Das weiß man ja auch nicht, bis man es einmal gemacht hat.

Aber von dem Spitzentanz, da hätte es etwas mehr sein können. Es war so unheimlich faszinierend. Danke, Inkanina, für die Karten! Jetzt müssen wir nur noch zusehen, dass du die auch wieder zurückbekommst, aber das kriegen wir auch noch hin.

Cinderella läuft noch bis Anfang Februar im Aalto in Essen und es gibt auch für die meisten Aufführungen noch Karten. Mehr Informationen und Bilder gibt es hier.

Eine Antwort auf „Cinderella von Sergei Prokofjew im Aaltotheater in Essen“

  1. Wenn wir irgendwann mal umziehen und ich im Keller an die Erinnerungskiste komme, hole ich die Spitzenschuhe raus. Und dann stellen wir Dich drauf. Und weil ich ja nett bin, bekommst Du auch Watte vorne rein.

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