Doof finden ist einfach

Früher gab es Freundebücher, die man in der Klasse und im Freundeskreis rumgehen ließ und in die jede und jeder ein Passbild kleben und Fragen beantworten konnte. Sollte. Musste. Je nachdem, wie man’s sieht. Geburtstag, Haarfarbe, Augenfarbe, Lieblingsfach, Lieblingstier, Hobbys, alles, was man so mit zwölf Jahren brauchte, um sich irgendwie als individuelles Wesen zu identifizieren. Obwohl dann ja doch immer dasselbe drin stand. Ironie war uns damals noch sehr fremd und unsere Hobbys waren „Lesen, Musik, Schwimmen“ oder – noch nichtssagender – „Alles, was Spaß macht!“

Die beiden schönsten Fragen waren aber: „Was ich mag…“ und „Was ich nicht mag…“, alternativ auch manchmal als „Was ich doof finde…“ Hier wurde es dann besonders uninteressant. Doof fand man: Lügner, Angeber und Krieg und vielleicht in einem moralisch nicht ganz so integren Moment auch Hausaufgaben oder Gemüse. Grundsätzlich war der Was-ich-nicht-mag-Teil jedoch nicht hinterfragbar, sondern im höchsten Maße offensichtlich: Lügner, Angeber und Krieg sind eben Dinge, die nur ganz wenige Menschen und die Rüstungsindustrie gut finden und die meisten sind dann wenigstens klug genug, zu wissen, dass man das nicht öffentlich äußert.

Heute findet man immer noch Dinge doof: Lügner, Angeber und Krieg zum Beispiel. Das ist ja auch nicht falsch. Lügen, Angeben und Kriegführen ist prinzipiell abzulehnen. Zu den anderen offensichtlichen Dingen, die man doof finden kann oder sogar muss, um sich als gesellschaftlich integrer Mensch zu fühlen gehören (eine Auswahl): Shoppingcenter, Fast-Food-Ketten, Mainstream-Pop, Fertiggerichte, überteuerter Kaffee aus amerikanischen Kaffeefranchises mit Nixen im Logo, IKEA, Privatfernsehen und Dudelfunk im Radio.

Stattdessen geht man erst in den super individuellen Pop-Up-Concept-Store mit den Kleidchen eines skandinavischen Labels, von dem nur Eingeweihte wissen und der netten Inhaberin, mit der man kurz noch über Gott und die Welt plaudert. Danach geht man in  das hübsche Café nebenan mit selbst gemachten Kuchen und Quiches. Das Inventar aus Flohmarktmöbeln zusammengebastelt, alles so hübsch. Im Hintergrund läuft ein alternativer Folk-Mix von Spotify, der Kaffee wird jetzt wieder ganz altmodisch überm Filter gebrüht (voll schön, wie bei Oma damals) und wenn man dann zu Hause ist, überlegt man kurz, ob man jetzt die Dokumentation auf arte gucken soll, entscheidet sich dann aber dafür, doch lieber ein gutes Buch zu lesen.

Um das klarzustellen. Ich gehe gerne in hübsche kleine Läden und habe in eben einem solchen auch schon ein sehr teures Kleidchen eines skandinavischen Labels gekauft. Ich finde kleine Cafés ganz wunderbar und bin immer noch ein bisschen traurig, dass das kleine Café mit dem selbstgebackenen Kuchen bei uns um die Ecke wieder schließen musste. Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, Musik allgemein eher unbekannter Künstler zu suchen und zu hören, ich gucke Opernaufführungen auf 3sat und lese mehr als 50 Bücher im Jahr, die meisten davon sind sogar gut.

Nur eins versuche ich, weitgehend zu vermeiden: Dinge grundsätzlich doof zu finden. Auch Shoppingcenter haben ihren Berechtigungsgrund. Für Quartalsshopper wie mich sind Shoppingcenter ein wunderbares Konzept, wenn man wirklich mal dringend ein paar Dinge braucht, weder Zeit noch Lust hat und halt nur schnell mal durch ein paar Geschäfte huschen muss. Danke, liebes Shoppingcenter, dass bei dir alles unter einem Dach ist und dann eben auch… genau… unter einem Dach. Man muss noch nicht mal mehr raus in die Kälte. Toll!

Auch die Wichtigkeit des quasi lebensrettenden McDonalds darf man nicht unterschätzen. Mein Mann und ich verbinden längere Autofahrten gerne mit einem Besuch eines Raststätten-Fast-Food-Restaurants, das hat schon Tradition. Überhaupt habe ich vermutlich unangemessen viel Zeit meines Teenagerlebens auf Plastikschalenstühlen in diesen kulinarisch fragwürdigen Etablissements verbracht und diesen Schnellrestaurants eine kleine Ecke in meinem Nostalgieherzen freigeräumt.

Die Hälfte unseres Mobiliars stammt von IKEA, ich habe mit Faszination mehrere Male hintereinander das Video von Taylor Swifts „Shake It Off“ gesehen und begeistert mitgewippt, unser Radio ist standardmäßig auf Radio Essen eingestellt und einer meiner häufigsten Sätze in Facebookdiskussionen über C-Promis ist „Ich guck halt jeden Scheiß!“

Shoppingcenter öffentlich doof finden ist mir zu einfach. Doof finden kann jeder. Es ist allgemein bekannt, dass die Erfindung des Shoppingcenters nicht die Sternstunde der menschlichen Geschichte darstellt, ebenso würde auch keine Fast-Food-Kette von sich behaupten, nachhaltige und kulinarisch ausgefeilte Kost anzubieten. Die Shopping-Center-Doof-Finder der heutigen Zeit sind die Angeber-Doof-Finder aus den Freundebüchern. Da steckt mir einfach zu wenig Fantasie hinter. Die liebsten Exemplare sind mir die, bei denen ein Besuch in gesellschaftlich geächteten Lokalitäten auch direkt physische Schmerzen herbeiruft. Im Shoppingcenter bekommt man Kopfschmerzen wegen der schlechten Luft und der miesen Akustik, von einem Burger von McDonald’s gibt’s direkt Bauchschmerzen, weil der sensible Magen, der seit Jahren nur noch hausgemachte Kuchen mit Obst aus Region bekommt, so was nicht mehr gewöhnt ist. Ja. Genau.

Frau Herzbruch hat in einem ganz anderen Zusammenhang mal was Schönes gesagt, da ging es ums Fernsehen bei Kindern, aber ich glaube, man kann das in leicht abgewandelter Form auf fast alles im Leben anwenden: „was schadet ist das fehlen der dinge, die das fernsehen ersetzt“. (Man darf an dieser Stelle das Wort „Fernsehen“ durch irgendwas anderes vermeintlich Doofes oder Doofmachendes ersetzen.)

Man kann prima in Shoppingcentern einkaufen, überteuerte zuckerhaltige Kaffeegetränke mit seltsamen Namen kaufen, im Auto Dudelfunk mit Nullmusik (Nullmusik ist mein Name für Musik, die so belanglos ist, dass man sie noch nicht mal wirklich wahrnimmt. Die Rotation bei WDR 2 besteht geschätzt zu 85 Prozent aus Nullmusik.) hören und abends eine belanglose Show mit mittellustigen Promis auf einem beliebigen Privatsender gucken und trotzdem am nächsten (oder sogar am gleichen!) Tag geile hausgemachte Marmelade aufs Brötchen vom Biobäcker schmieren, während man einen spannenden Podcast zu einem wichtigen aktuellen Thema hört, abends noch ein tolles Buch liest und sich für den nächsten Tag die Dokumentation über eine italienische Familie, die in einem Bergdorf in der fünften Generation Nudeln komplett in mühevoller Handarbeit herstellt notiert. In einem Moleskine. Mit E hintendran.

Ich habe noch nie verstanden, warum das eine das andere ausschließen muss. Das erschließt sich mir nicht. Mein Bloguntertitel steht ja auch nicht umsonst da oben. Und deswegen finde ich Dooffinden von weitgehend irrelevanten Aspekten des Alltags auch eher doof. Es führt zu nix, außer, dass man einmal mehr demonstriert hat, dass man weiß, was man aktuell doof zu finden hat. Wer Shoppingcenter doof findet, braucht ja keines zu betreten. Im Gegensatz zu Leuten übrigens, die Krieg doof finden, die müssen dann nämlich manchmal aus ihrem eigenen Land fliehen. Das Dooffinden von Shoppingcentern macht einen nicht zu einem besseren Menschen, auch nicht zu einem klügeren, ethisch korrekteren oder gar schöneren. Es macht einen noch nicht mal zu einem interessanteren oder individuelleren Menschen, weil es ja nun wirklich genug Menschen gibt, die Shoppingcenter doof finden. Man ist einfach ein Mensch, der Shoppingcenter doof findet. Ob man sich aber über das Dooffinden von Banalitäten identifizieren möchte, muss dann wahrscheinlich jeder selbst wissen.

Dooffinden ist auch immer ein aus- und abgrenzender Akt. Klar, man erntet auch immer schöne Kommentare wie „Genau!“ und „Stimmt. Total doof, hab ich auch schon immer gesagt!“, aber wer Ding A doof findet und das mitteilt, tritt damit auch den Leuten unangenehm auf die Füße, die Ding A vielleicht gar nicht so schlimm oder gar ganz okay finden und nun verschämt auf den Boden schauen und sich ob ihrer zweifelhaften Situation nichts mehr zu sagen trauen. Im Gegensatz dazu ist Tollfinden ja eher inklusiv gedacht. Das Tollfinden von Ding B bewirkt im besten Fall, dass jemand, der Ding B noch nicht kannte, sich jetzt auch dafür interessiert.

Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Nazis darf man zum Beispiel immer doof finden, und sollte das auch gerne überall äußern, das befürworte ich sehr. Genauso ist das Tollfinden von Kinderarbeit nicht ohne Protest hinzunehmen. Aber in den meisten anderen Bereichen bin ich doch sehr dafür, weniger doof zu finden und viel mehr toll zu finden. Denn, um es mit Frau Herzbruch zu sagen: „Was schadet sind nicht die doofen Dinge, sondern das Tolle, das von den doofen Dingen ersetzt wird.“

9 Antworten auf „Doof finden ist einfach“

  1. Ich habe für mich dieses Prinzip zu „nicht bewerten“ verallgemeinert. Allerdings weise ich gerne auf Missstände hin, indem ich sie durch ihre Beschreibung für (manchmal auch gegen) sich selbst sprechen lässt…

  2. Ich hatte quasi bei jedem zweiten Satz das Bedürfnis, laut „Ja, genau!“ zu sagen – was im Büro allerdings eventuell komisch rübergekommen wäre… ;-) Danke für diesen schönen, wahren Text! (Die ganze Zeit hab ich gedacht: Doch, eines gibt es, Nazis muss man immer doof finden, und dann kommst du da im letzten Absatz tatsächlich zu. Toll!)
    Mich strengt das sehr oft ziemlich an, wenn Menschen aus dem, was sie mögen oder eben nicht, immer gleich etwas Grundsätzliches machen. Zu viel Schwarz-Weiß-Denken…

  3. Wieder einmal danke für einen guten Text. Prinzip verstanden, dennoch hier mein erster Meckerkommentar, Anmerkung eigentlich.

    Es gibt tatsächlich Menschen, denen Überstimulation Schmerzen bereitet. (Muss ich „körperliche“ hinzufügen, damit es zählt?) Ist ein (dann sehr relevantes) Alltagserleben, das nicht jede_r teilt – aber ungleich Aufbauscherei, Profilierungsversuch oder wie immer der Absatz gemeint war.

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