Île d’Oléron, 1992

Wir fahren zelten auf die Île d’Oléron und diesmal kommt die halbe Familie mit, Mama und Papa und ich, drei Tanten, zwei Onkel und fünf Cousinen und Cousins. Außerdem kommt unser Zwergdackel Susi mit. Ich bin elf.

Wir bekommen einen Platz ganz hinten auf dem Campingplatz, wo wir unsere Zelte aufstellen können. Onkel M. hat ein rotes Wohnmobil, da ist sogar eine kleine Küche drin mit Kühlschrank.

Mama und Papa bauen unser Zelt auf einer kleinen Anhöhe auf, die anderen weiter unten. Direkt dahinter geht es schon zum Meer.

In der ersten Nach gibt es ein Gewitter mit Sturm. Mama und ich liegen in unseren Schlafsäcken und Papa läuft immer wieder raus und guckt, ob die Heringe noch fest sind. Irgendwann kommt er nicht wieder rein und Mama fragt, was er macht. „Ich halt das Zelt fest, damit es nicht wegfliegt!“ ruft Papa und dann dauert es nicht lange, bis wir alles ganz schnell zusammenpacken. Ich ziehe mit Susi unterm Arm zu Sarah ins Schlafzelt und Mama und Papa versuchen noch, das Zelt abzubauen und alle Sachen unterzubringen.

Am nächsten Tag ist wieder Sonne und danach gibt es auch kein Gewitter mehr. Das Zelt bauen wir jetzt trotzdem unten bei den anderen auf.

Wir frühstücken zusammen und dann sind wir meistens am Strand. Wir paddeln auf unseren Luftmatratzen aufs Meer und bauen Kanalsysteme in den Sand, so nahe am Meer, dass die hereinschwappenden Wellen die Kanäle mit Wasser füllen.

Susi scharrt immer Sand in ihren Napf, niemand versteht, warum.

Ich lerne ein Mädchen aus Deutschland kennen. Sie heißt Nicole und ihre Eltern haben einen Wohnwagen und sie hat einen Hund, einen Münsterländer. Ich verbringe viel Zeit mit Nicole, weil mir bei uns manchmal zu viel los ist und als die Ferien vorbei sind, tauschen wir unsere Adressen aus, damit wir uns schreiben können.

Einmal fahren wir in einen Vogelpark und gehen da spazieren. Es ist sehr heiß. Mein kleinster Cousin Max ist erst drei und beißt mich, aber Tante B. sagt, das macht er mit Leuten, die er mag.

Penvénan, 1991

Ich bin wieder nur mit Mama und Tante M. und Robert und Dennis unterwegs, diesmal fahren wir in die Bretagne an die Nordküste, denn da haben Tante H. und Tante R. mit ihren Familien ein Haus gemietet und wir fahren mit den Zelten hinterher und bleiben in der Nähe auf einem Campingplatz.

Ich habe einen Hanni-und-Nanni-Sammelband aus der Bücherei dabei, ein ganz großes Buch, in dem alle 18 Bände sind und weil ich so schnell lese, schaffe ich jeden Tag einen Band. Außerdem habe ich schon die Englischbücher für das nächste Schuljahr dabei, weil ich Englisch so toll finde und schon weiterlernen will, nächstes Jahre komme ich in die sechste Klasse, ich bin zehn.

Das Haus ist von außen schön, aber innen drin ist es ganz dunkel, es hängen komische kitschige Bilder an der Wand und überhaupt ist alles seltsam.

Zum Baden fahren wir ans Meer, in einer kleinen Bucht ist ein Sandstrand, links und rechts sind Felsen, auf die man draufklettern kann. Wenn man sich traut, kann man dann auch runterspringen, aber das Wasser ist sehr, sehr kalt, also gehen wir gar nicht richtig viel ins Wasser.

Morgens frühstücken wir bei uns im Zelt, aber abends sind wir oft bei den anderen im Haus. Meine Backe tut beim Kauen weh, und Mama meint, das käme bestimmt von dem Baguette, weil man da immer so dran reißen muss beim Abbeißen. Tatsächlich habe ich aber Mumps, auf beiden Seiten, gleichzeitig. Weil ich krank bin und Fieber habe, darf ich im Haus schlafen. Onkel G. ist Arzt und weiß, was zu tun ist.

Irgendwer hat eine Kassette mit der Dschungelbuchgeschichte mitgenommen und im Haus hören wir sie rauf und runter und singen alle Lieder mit.

Wir fahren an einen anderen Strand, an dem viele Felsen sind. Wir klettern auf die Felsen und springen von einem zum anderen. Sarah und ich sind die ältesten und müssen auf die kleineren aufpassen, wenn es mal gefährlich wird.

Einmal kommt ein Stierkampf in die Stadt, eine Arena wird aufgebaut und alle wollen hin, aber ich finde Stierkämpfe doof und uninteressant und bleiben mit meinen Tanten zu Hause. Als die anderen zurückkommen sagen sie, es wäre langweilig gewesen, außerdem wäre der Stier gar kein Stier gewesen, sondern eine Kuh.

Les Sables-d’Olonne, 1990

Ich bin mit Mama und Tante M., einer Freundin von M., meinem Cousin Robert und seinem Freund Dennis auf einem Campingplatz irgendwo in der Nähe von Les Sables-d’Olonne. Papa ist dieses Jahr nicht mitgekommen. Im Auto hören wir abwechselnd meine Rolf-Zuckowski-Kassetten und eine Kassette mit Oldies von Mama. Ich mag The Eve of Destruction besonders gerne, dafür finde ich A Horse With No Name und In The Year 2525 doof. Nach den Ferien komme ich aufs Gymnasium, dann lerne ich endlich Englisch, ich bin neun.

Auf dem Campingplatz gibt es keine richtigen Toiletten, nur Kabinen mit einem Loch im Boden. Es stinkt und ist voller Fliegen. Ich gehe in den zwei Wochen exakt einmal auf dem Campingplatz auf Klo, weil es mir zu eklig ist.

Einmal gehen wir zum Angeln ans Meer, ich fange direkt einen kleinen Fisch. Er hängt am Haken und zappelt umher und tut mir ganz furchtbar leid. Wir pulen den Fisch vom Haken und werfen ihn wieder zurück ins Meer, aber ich ahne schon, dass er vielleicht nicht überleben wird. Danach gehe ich nie wieder Angeln.

Wir machen einen Ausflug zu einer Salinenanlage. Man kann mit Schiffchen durch die Salzwasserbecken fahren. An der Ablegestelle wartet eine Familie aus Deutschland mit zwei Töchtern, die ältere ist in meinem Alter. Wir reden nicht viel, beschließen aber, Brieffreundinnen zu werden und ich schreibe mir ihre Adresse auf. Sie heißt Kathrin und kommt aus Warendorf. Wir fahren nicht im selben Boot, Kathrin und ihre Familie fahren zuerst, wir in dem Boot danach. Als wir wieder anlegen, wartet Kathrin auf mich. Sie will noch meine Adresse haben, damit sie mir vielleicht noch aus dem Urlaub eine Karte schicken kann. Ich diktiere ihr die Adresse, „Zuger Klause 18“, sage ich. „Neues Wort?“ fragt Kathrin und ich denke, was für eine komische Frage, das weiß ich doch nicht, ob das ein neues Wort für sie ist. Aber Kathrin will nur wissen, ob Klause ein neues Wort ist oder ob der Straßenname zusammengeschrieben wird. Ach so. Neues Wort, na klar.

Meine erste Postkarte von Kathrin bekomme ich tatsächlich noch aus ihrem Frankreichurlaub. Es ist ein Kätzchen und ein Häschen darauf. Ein paar Briefe später finden wir heraus, dass wir am selben Tag geboren wurden.

postcard

Aubenas, 1989

Wir sind wieder mit K. und U. und Sebastian im Urlaub, wir fahren nach Aubenas, das ist eine richtige Stadt. Die Ferienwohnung hat einen Garten mit Obstbäumen, von dem wir die reifen Früchte pflücken können.

Zum Baden fahren wir an die Ardèche, das ist ein Fluß mit Kiesstrand. Ich freunde mich mit einem französischen Mädchen an, sie heißt Lise und wenn ich mitkommen soll, sagt sie „Allez“, das kenne ich nur aus dem Zirkus, da sagen sie „Allez-hop!“, aber was es bedeutet, weiß ich nicht, ich spreche ja kein Französisch, ich bin acht. Aber ich weiß, dass Lise meint, dass ich mitkommen soll, und dann fangen wir kleine Fischer mit unseren Keschern.

Ich habe eine Kassette mit Kinderliedern und einen Walkman, damit kann ich immer Musik hören, wenn ich will.

Außerdem will ich, dass wir zusammen Gesellschaftsspiele spielen, aber U. sagt, sie spielt nicht mit. Sie sagt aber auch, dass sie das nur sagt, damit ich mich freue, wenn sie dann vielleicht doch mitspielt und nicht umgekehrt, wenn sie jetzt ja sagt, aber dann doch nicht will, enttäuscht bin. Das leuchtet mir ein, aber sie spielt dann halt doch einfach nicht mit.

Einmal gehen wir ins Schwimmbad in der Stadt, das ist aber überhaupt nicht so wie die Schwimmbäder bei uns zu Hause, es ist klein und voll und es gibt gar keine Wiese, sondern nur Steinplatten um das Becken mit Liegestühlen. Wir gehen also auch nur einmal ins Schwimmbad, denn am Fluss ist es schöner.

Beaufort-sur-Gervanne, 1988

Wir sind schon wieder in Beaufort, es ist Herbst und ich bin acht. Diesmal sind wir nicht mit M. und G. und Lisa hier, sondern mit K. und U. und ihrem Sohn Sebastian, aber der ist noch ein Baby, ich bin sieben und werde bald acht. Außerdem ist Linda mit dabei, die Tochter von Freunden von K. und U. Linda ist ein bisschen jünger als ich.

Wir lernen eine Familie aus Stolberg kennen, die haben ein Haus gekauft, noch weiter hoch am Berg, es ist aber noch ein Baustelle. Die Küche ist groß und das Wasser kommt direkt von einer Quelle. Die Töchter heißen Lene und Ellen. Lene ist so alt wie ich und Ellen ein paar Jahre jünger. Lene hat ein Hörgerät, weil sie fast taub ist, das Hörgerät nennt sie „Horchi“.

Wir gehen auf den Friedhof vor der kleinen Kapelle. Der Friedhof ist klein und wurde irgendwann mal umgegraben, wenn man etwas sucht, kann man Zähne und Knochen finden.

Als wir in einer kleinen Stadt unterwegs sind, fasziniert mich die Sprache, in der die anderen Menschen reden, so schnell, ich verstehe überhaupt nichts. Ich möchte aber gerne verstehen, was die Leute reden. In einem Geschäft gibt es Drachen. Ich wünsche mir einen Drachen und darf mir einen aussuchen.

Ich habe meine Blockflöte mitgenommen und ein Notenheft und spiele Kinderlieder von einer Kassette nach und schreibe die Noten dazu auf. In dem Haus gibt es viele Bücher auf Holländisch, aber nicht so viele auf Deutsch, sonst könnte ich die lesen.

Die Erwachsenen wollen immer spazieren gehen, aber das ist langweilig.

Beaufort-sur-Gervanne, 1987

Das Haus liegt an einem Hang direkt an der Straße, man guckt auf Berge und dazwischen kleine Häuschen und die kleine verfallene Kapelle. Mit dem Auto fährt man lange, lange auf einer kleinen kurvigen Straße von Beaufort zum Ferienhaus oder eben zurück, der nächste Bäcker ist in Beaufort, es kommt einem vor wie eine Ewigkeit, wenn die Straße eine Kurve um den Felsen macht, hupt man, für den Fall, dass einem jemand entgegenkommt.

Das Haus ist groß und drumherum ist nur Natur, Papa stellt seine Malaise-Falle auf, ich darf mit seinem Schmetterlingsnetz Insekten fangen. Lisa mag das Weiße vom Ei nicht.

Wir baden in der Gervanne, das Wasser sammelt sich in einem kleinen Becken und strömt über glatte Felsen in ein größeres Becken, eine natürlich Wasserrutsche, Lisa und ich rutschen und rutschen, auf Luftmatratzen oder einfach auf dem Po. Das geht, weil wir noch klein und leicht sind, ich bin sechs. Das Wasser in dem großen Becken ist dunkel und tief und unheimlich, ich rutsche lieber.

Im Dorf hängt ein Bild von einem Mädchen, das ertrunken ist. Das Bild ist gruselig, ein aufgequollenes Gesicht, schwarz-weiß hängt es dort angeschlagen, damit jeder es sehen kann. Niemand weiß, wer das Mädchen ist, das ertrunken ist. Deswegen hängt das Bild damit, damit sich jemand meldet, der es weiß.

Limoges, 1986

Wir sind irgendwo an der Loire bei Limoges auf einem Bauernhof. Die Ferienwohnung ist im ersten Stock, man muss außen am Haus eine Steintreppe hoch und dann durch eine schwere Tür. Einmal klemme ich mir den Finger in der Tür und muss sehr weinen. Ich bin fünf und wir sind mit dem Auto nach Frankreich gefahren.

Auf dem Hof gibt es Tiere und einen Stall mit einem großen Haufen Zeug, vielleicht ist es Hühnerfutter, es ist auch egal, die Hauptsache ist, dass man reinspringen kann.

Wir singen „My Bonnie Is Over the Ocean“, aber ich bin erst fünf und verstehe kein Englisch, vielleicht denke ich, es geht um ein Pony, aber „bring back“ verstehe ich, das heißt zurückbringen.

Wir schwimmen in Seen, aber die ganze Natur in den Seen ist mir ein bisschen suspekt. Einmal kommt Lisa völlig aufgelöst aus dem Wasser und sagt, sie hätte eine Wasserschlange gesehen. Das war bestimmt nur eine Pflanze, sagt M. ABER DIE HAT MICH ANGEGUCKT, sagt Lisa.

Lisa und ich schlafen in einem Zimmer und wir streiten uns, weil Lisa will, dass die Tür einen Spalt offen bleibt und das Licht im Flur an ist, aber das Licht dann genau mir ins Gesicht scheint. Wir weinen und zetern. Ich weiß nicht mehr, wie das Problem gelöst wird.

Lannilis, 1985

Wir fahren zum ersten Mal in Urlaub nach Frankreich. Mama und Papa haben zusammen mit M. und G. ein Haus in der Bretagne gemietet. M. und G. haben eine Tochter, Lisa, die so alt ist wie ich und sind schon da. Mama, Papa und ich fahren mit dem Nachtzug nach Frankreich, weil Papa noch arbeiten musste. Der Plan ist, dass wir alle schlafen, aber ich bin vier, alles ist aufregend und an Schlaf ist nicht zu denken.

„Papa, schläfst du schon?“ frage ich, immer und immer wieder, also kann auch sonst keiner schlafen.

Am Bahnhof holt uns M. mit seiner schwarz-weinroten Ente ab. Im Auto schlafe ich sofort ein.

Von dem ganzen Urlaub erinnere ich mich nur an die schwarz-weinrote Ente und eventuell an das Haus, aber das vielleicht auch nur, weil es Bilder davon gibt, vom Haus, nicht von der Ente, an die erinnere ich mich wirklich. Aber das war 1985 und da war ich erst vier.

Meine kleine Filterblase

Meine Kindheit verbrachte ich am Rand von Köln in der Bruder-Klaus-Siedlung, wo die Straßen nach Schweizer Städten heißen, so dass ich zumindest nie verlegen bin, wenn ich mal Städte in der Schweiz nennen soll, ich muss dafür einfach nur einmal gedanklich durch die Siedlung laufen.

In der Mitte der Bruder-Klaus-Siedlung stand die Kirche, wir lebten zwar theoretisch in einer Großstadt, aber auch hier hatte man die Kirche sprichwörtlich im Dorf gelassen. Der Kindergarten war ein katholischer Kindergarten, die Grundschule eine katholische Grundschule. Es waren die achtziger Jahre und alles war schön und ordentlich und hatte seinen Platz.

In meiner Grundschulklasse waren wir um die 20 Kinder, vielleicht 25, ich weiß das nicht mehr genau. Sechs davon waren türkische Kinder, so hieß das damals, heute würde man „mit Migrationshintergrund“ sagen. Gar nicht mal so wenige, das lag vermutlich am Einzugsgebiet der Grundschule, ich weiß aber gar nicht, wo diese Kinder wohnten, aber dazu kommen wir später noch.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es Konflikte gab zwischen den türkischen und den deutschen Kindern, wir waren alle Schüler einer Klasse, manche hatten bessere Noten, manche schlechtere, manche fanden wir netter, manche fanden wir blöder. Meistens fanden wir sogar die blöd, die wir vor zwei Wochen noch supernett gefunden hatten und weitere zwei Wochen später waren wir wieder eng befreundet.

Wenn wir Religion hatten, dann waren die türkischen Kinder nicht dabei. Die türkischen Kinder hatten ihren eigenen Unterricht mit einem türkischen Lehrer, dessen Namen ich vergessen habe, irgendwas mit D, Dogcan vielleicht, gibt es so einen Nachnamen? Ich weiß noch nicht mal, was das für ein Unterricht war, auch Religionsunterricht oder Türkisch? Wir waren nie dabei, wir kannten nur den Lehrer, einen großen freundlichen Mann, der einzige Lehrer an der kleinen Grundschule und wir wussten, dass diese sechs Kinder einmal die Woche etwas anderes machten als wir, das war okay.

Aber.

Ich war kein einziges Mal bei einem meiner türkischen Mitschüler zu Hause. Ich weiß nicht, wo sie wohnten, ich weiß nicht, wo sie nach der Schule hingingen, was sie machten, was sie spielten, was sie lasen. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist und ich kann mich nicht daran erinnern, mich jemals ausgiebig mit einem von ihnen unterhalten zu haben, ich habe von zweien den Vor- und von allen den Nachnamen vergessen. Das gilt natürlich auch für einige andere Mitschüler, mit denen ich außerhalb der Schule nur selten oder gar nicht zu tun hatte, aber in der Eindeutigkeit, wie genau diese sechs Kinder außerhalb der Schule keine Rolle für mich spielten, irritiert es mich im Nachhinein schon.

Meine Cousine, die ein paar Jahre in der gleichen Siedlung lebte, hatte eine Nachbarin, ein Mädchen namens Elmas. Elmas wohnte mit ihren Eltern und ihrem Bruder im Haus gegenüber im zweiten oder dritten Stock. Ein paar Mal war ich tatsächlich bei Elmas zu Hause, ihre Mutter hatte eine Strickmaschine, was mich sehr beeindruckte, dieses große Ding, das einfach so Pullover stricken konnte, mit Motiv. Elmas und meine Cousine hatten den gleichen Pullover, rot mit einer weißen Katze darauf. Ich war sehr neidisch und hätte gerne auch einen Katzenpullover gehabt. Aber viel mehr weiß ich auch nicht über Elmas und ihrer Familie. Das mag auf der einen Seite daran gelegen haben, dass wir eben Kinder waren und uns viele Fragen gar nicht gestellt haben, nicht so mit dem Andersartigen gefremdelt haben oder eben das Andersartige gar nicht gesucht haben, weil wir nicht wussten, dass es da sein sollte.

Viel wahrscheinlicher ist aber, dass ich auch damals in meiner kleinen Filterblase lebte, in der man eben aus diversen Gründen viel mehr mit den deutschen Mitschülern zu tun hatte. Ein Grund war sicherlich pragmatisch-geographischer Natur. Die deutschen Mitschüler lebten zu fast 100 Prozent in dem für uns Kinder damals allein navigierbaren Bereich der Siedlung. Die türkischen Mitschüler wohnten woanders. Man hätte gar nicht gewusst, wie man da hätte hinkommen sollen, selbst wenn man gewusst hätte, wo dieses da überhaupt war.

Dazu kam, dass die Eltern der deutschen Kinder sich oft schon kannten, weil die Siedlung ein bisschen wie das Dorf war, in dem die eigenen Eltern die der anderen Kinder schon von früher kannten. Unsere Nachbarn waren die Großeltern von Christine aus der Parallelklasse und ein Haus weiter wohnten die Großeltern von meinem Mitschüler Thomas. Im ersten Haus unserer Sackgasse wohnte mein Mitschüler Sebastian und seine zwei Brüder. Viele der deutschen Kinder kannte man schon aus dem Kindergarten und hatte da schon Freundschaft geschlossen.

Addiert man dazu noch alle anderen Gemeinsamkeiten, war es einfach naheliegender, dass ich mit Sandra und Simone befreundet war und nicht mit Serra und Serap.

Ich möchte eigentlich nur auf eines hinaus: Man hört immer so viel von der Filterblase, in der wir stecken, weil wir uns im Internet immer nur mit den Leuten umgeben, die mit uns auf einer Wellenlänge sind, die die gleiche Meinung haben und den gleichen Hintergrund, mit denen wir uns nicht streiten müssen oder zumindest nicht über Grundsätzlichkeiten, weil man ja prinzipiell auf der gleichen Seite ist.

Die Filterblase ist aber keine Erfindung des Internets. Die war schon immer da, sie hatte nur damals keinen fancy Namen. So war einfach das Leben. Das macht es nicht weniger wichtig, gelegentlich aus ihr herauszutreten*, aber wir können zumindest aufhören, so zu tun, als wäre das Internet hier das Problem** und nicht die Menschen, wie sie schon immer waren. Und da schließe ich mich ausdrücklich mit ein.

* Aus Gründen der emotionalen Stabilität halte ich es übrigens für genauso wichtig, sich gelegentlich in die Filterblase verkriechen zu können, es sollte nur kein Dauerzustand sein.

** Das Internet hat andere Probleme, die sicherlich auch wichtig zu diskutieren sind, aber das ist Stoff für andere Blogeinträge.

Au revoir, Monsieur E.

Herr E. übernahm in 1996 den Grundkurs Französisch der elften Klasse, der im nächsten Halbjahr zum Leistungskurs wurde. Acht Mädchen und ein Lehrer, ein Zwei-Meter-Mann (jedenfalls gefühlt) mit Vollbart und Schalk in den Augen.

Einer der Lehrer, die ihre Fächer liebten und für die der Beruf Berufung war. Vielleicht habe ich selten so viel gelernt wie in den nächsten zweieinhalb Jahre bis zum Abitur, in unserem kleinen kuscheligen Französisch-LK und dem fast ebenso kleinen Geschichtsgrundkurs, den wir heimlich auch LK nannten, weil wir von Textbergen überhäuft wurden, damit wir ja so viel wie möglich über die Vergangenheit lernen konnten. Herr E. brachte uns bei, dass wildes Textmarkern doof war, man solle sich möglichst nur ein Wort anstreichen, mit dessen Hilfe man sich den Inhalt des ganzen Absatzes merken könnte.

Herr E. sorgte sich um uns, seine Schüler waren ihm wichtig, die Beziehung war von beiden Seiten von Respekt und Sympathie geprägt. Er erzählte von seinem Hörsturz und seinen Rücken- und Hüftproblemen. Er lud uns zum Kurstreffen zu sich nach Hause ein, wo wir seine zwei Kinder kennenlernten, wir trafen uns bei einem anderen Treffen bei uns zu Hause. Er war einer der freundlichsten und nettesten Lehrer, und vermutlich einer der freundlichsten und nettesten Menschen, die ich kennenlernen durfte.

Als wir einige Jahre nach unserem Abitur bei einem Schulfest waren, klopften wir ans Lehrerzimmer und erkundigten uns, aber Herr E. war nicht da, gesundheitliche Probleme, eine OP, ich weiß es nicht mehr genau.

Knapp zehn Jahre nach unserem Abitur hat sich Herr E. umgebracht. Ich erfuhr es bei unserer zehnjährigen Abifeier, eher zufällig, bei einer Führung durch die Schule, ein Bild von Herrn E. auf einem Regal im Lehrerzimmer. Der Tinnitus war zurückgekommen, die anderen Leiden wurden nicht besser, irgendwann war es zu viel.

Man findet die Rede zweier Lehrer zu seinem Tod im Schuljahrbuch, ich habe beide mehrfach gelesen. Jedes Mal, wenn ich in Frankreich bin und mich auf Französisch unterhalte, möchte ich ihm sagen: „Hier, guck! Ich kann’s noch! Das hab ich alles bei dir gelernt!“ und dann fällt mir ein, dass ich ihm das nie persönlich werde sagen können und dann bin ich kurz sehr, sehr traurig.

Ich war nicht auf der Beerdigung, ich habe es ja nur zufällig erfahren. Wir hatten schon jahrelang keinen Kontakt mehr, es ergab sich nicht, ich habe mein Leben weitergelebt und er seines und dann hat er seines nicht mehr weitergelebt. Es fühlt sich nicht abgeschlossen an, als ob ich noch irgendwas tun müsste, als ob er noch irgendwie da sein müsste, weil es ja keinen Abschied gab. Und es fühlt sich nicht richtig an, dass da einer nicht mehr da ist, obwohl er da sein könnte.

Letztens habe ich Briefe gesucht im Keller und mir fielen Briefe mit einer kantigen Handschrift in die Hand. Adressiert an eine Adresse in Hoboken, wo ich kurz nach dem Abitur als Au-Pair war. Und so stand ich da im Keller und hielt längst vergessene Briefe von Herrn E. in der Hand und fing an zu weinen.

Au revoir, Monsieur E. Vous avez fait une furieuse dépense en esprit.