Der Mann hat Ideen. Auf einmal meint er, wir müssten/sollten/könnten doch mal mit dem Fahrrad nach Bochum fahren. Und zurück.
Der hat sie doch nicht alle.
Aber weil ich nicht so bin, und weil Fahrradfahren ja eigentlich schön ist und die Sonne scheint und in Bochum Gourmetmeile ist und weil es ja auch nicht prinzipiell verkehrt ist, sich mal ein bisschen sportlich zu betätigen, sage ich auch noch “Ja klar, können wir machen.”
Ich hab sie doch nicht alle.
Den Weg hat er sich schon angeguckt, 13,3 km sagt Google Maps, das ist machbar. Immerhin sind wir auch schon mal von Bonn bis nach Opladen gefahren, allerdings war ich damals noch jung und voller Energie und außerdem ging das fast die ganze Zeit am Rhein entlang, es war also vor allem weit, dafür aber nicht anstrengend.
Egal. Wir machen das jetzt. Der Mann holt sein Rad raus und stellt noch mal den Sattel richtig ein, während ich mich zum Leihfahrradständer aufmache, um ein schniekes Leihrad zu holen. Da muss ich erstmal zehn Minuten lang einer Leihfahrradinteressierten erklären, wie das alles so funktioniert und dann kann’s losgehen.
Der Plan sagt, wir fahren über Huttrop und Steele irgendwie nach Bochum rein. Im Prinzip fahren wir die ganze Zeit nur nach Westen, so richtig schief gehen kann da nichts. Außer natürlich die Hügel, vor denen ich mich jetzt schon fürchte.
Das Ruhrgebiet ist nämlich, um mal gleich mit falschen Vorstellungen aufzuräumen, erschreckend hügelig. Das merkt man nicht so sehr, wenn man mit dem Auto unterwegs ist oder zu Fuß, das merkt man vor allem auf dem Fahrrad. Ebene Strecken gibt es kaum, es geht dauernd auf und ab, mal mehr und mal weniger schlimm. Plattes Land gibt es im Nordwesten (Niederrhein), im Nordosten (Münsterland) und grob in Richtung Süden (Köln und so), das Ruhrgebiet hat Hügel. So ist das nämlich.
Und die Sonne scheint. Weil wir doch ein bisschen klug waren, haben wir sogar an Wasser gedacht, nur meine Strickjacke habe ich zu Hause vergessen. Es muss also sonnig bleiben, ganz einfach.
Kurz vor Huttrop fange ich zum ersten Mal an zu fluchen, eher so aus Prinzip, weil’s eben bergauf geht. Das ist aber alles noch machbar. In Huttrop selber werden wir dann fahrradwegtechnisch umgeleitet und folgen dann lieber den Schildern mit den kleinen roten Fahrrädern als unserem ausgedruckten Plan. Unser Vertrauen in die Ruhrverkehrswege ist groß, die werden schon wissen, was sie machen, und schöner ist das bestimmt, hier im Wohngebiet rumzufahren anstatt auf Hauptstraßen permanent von ungeduldigen Autofahren überholt zu werden.
Dann sind wir in Steele, müssen einmal kurz über die fiese große Kreuzung und dann geht’s zum Hellweg.
Der Hellweg, davon bin ich fest überzeugt, heißt so, weil es einer Höllenanstrengung bedarf, da erst mal hoch zu kommen. Zu allem Überfluss verabschiedet sich jetzt auch noch die Gangschaltung des Leihrades, und ich habe jetzt die Wahl, diese Steigung im dritten Gang (von insgesamt drei Gängen) zu fahren oder zu schieben. Um einem Herzkasper in jungen Jahren vorzubeugen, schiebe ich lieber.
Hatte ich eigentlich erwähnt, dass wir Gegenwind haben? Wir haben Gegenwind. Die ganze Zeit. Aber das nur am Rande.
Wenn man erstmal oben auf dem Hellweg ist, geht’s wieder, und kurze Zeit fahren wir einfach so aus Essen raus und befinden uns für kurze Zeit im Niemandsland zwischen Essen und Bochum. Auf beiden Seiten Felder, und Richtung Norden gibt’s Ruhrgebietspanorama vom Feinsten. Ich habe zwar die Kamera dabei, mache aber auf dem Hinweg keine Bilder. Dann müsste ich nämlich alle fünf Minuten anhalten und wir würden nie ankommen. Aber schön ist es schon.
Weil wir helmlos unterwegs bin, fahre ich sicherheitshalber so nah am Feldrand, dass, sollte ich umfallen, ich zumindest mit dem Kopf in den Brennesseln und nicht auf dem Asphalt lande. Ich bin halt total klug, was Unfallprophylaxe angeht.
Auf einmal sind wir in Bochum. Also in Wattenscheid. Also in Wattenscheid-Höntrop. Bochum-Wattenscheid-Höntrop. Man gönnt sich ja sonst nichts. Von hier aus geht es eigentlich nur noch geradeaus, auf langen Hauptstraßen, gelegentlich mal bergauf, meistens aber leicht bergab. Dank Gegenwind muss man aber auch bergab treten. “Zurück fahr ich aber nicht”, schreie ich dem Mann zu. Das stößt auf Unverständnis. Wir werden das wohl noch mal besprechen müssen.
Wir passieren das Thyssen-Krupp-Werk, also eins davon, die zahllosen Buden und Imbisse, dann irgendwann die Jahrhunderthalle und dann sind wir schon da. Die letzten Meter schleppe ich mich zähneknirschend bis zum Rathaus hoch und fühle mich dabei wie achtzig. Am Rathaus ist direkt eine Leihradstation, da wird das Rad abgestellt und wir machen uns auf, Hunger und Durst zu stillen.
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Natürlich fahren wir auch zurück. Unter der Auflage, dass ich auf dem Rückweg alle paar Minuten anhalten und Bilder machen darf, erkläre ich mich bereit, den Scheiß noch mal mitzumachen. Es kommt aber dann ganz anders. Direkt an der Jahrhunderthalle nämlich ist der Fahrradweg nach Essen (14 km) ausgeschildert, der Pfeil zeigt aber ganz woanders lang, als dahin, wo wir hergekommen sind.
Ist uns egal, wenn da Essen steht, wird’s da wohl nach Essen gehen, also fahren wir immer noch voller Vertrauen in die Ruhrgebietsradwegbeschilderung tendenziell eher gen Norden. Da ist Essen ja eigentlich gar nicht, aber die werden sich schon was dabei gedacht haben.
Tatsächlich steht schon an der nächsten Radwegkreuzung nichts mehr von Essen. Jetzt kann man nur noch zur Zeche Zollverein fahren, was zwar technisch auch Essen ist, faktisch aber so ziemlich genau auf der anderen Seite von Essen als wo wir hinwollen.
Egal. Wir fahren hier lang. Wie sich rausstellt, fahren wir jetzt auf dem Erzbahnradweg und es ist schön. So schön. Und überhaupt nicht hügelig. Man fährt immer mal wieder über hübsche Brücken, und ansonsten eigentlich nur durch die Natur. Es ist geradezu grotesk schön und grün hier, und wenn man nicht gelegentlich mal ein bisschen Straßenlärm hören oder einen Zechenturm zwischen den Bäumen hervorgucken sähe, man würde nicht glauben, dass man sich immer noch mitten im Ruhrgebiet befindet.
Kurz vor Herne haben wir mal kurz Angst, eine Abfahrt verpasst zu haben, aber dann geht’s doch noch links nach Essen weiter. Da hat auch jemand ganz geschickt eine Bude aufgebaut, um die ganzen Radfahrer und Spaziergänger zu versorgen. Überhaupt: Andere Fahrradfahrer. Davon gibt’s hier und heute viel zu viele. Was wollen die alle hier? Es gibt ja auch nichts Schlimmeres als andere Fahrradfahrer, denn die sind entweder zu langsam oder zu schnell oder belegen zu zweit gleich mal zwei Drittel des Radweges. Ich provoziere durch euphorisches Abbremsen zwecks Fotografiererei fast ein paar Auffahrunfälle, und laufe einmal einem Sportradfahrer fast vors Rad, aber alles geht gut.
Mal wieder wird offensichtlich, dass man im Ruhrgebiet schnell die Orientierung verlieren kann und dann erstmal rausfinden muss, in welcher Stadt man ist. Die Antwort findet sich am einfachsten auf den Autokennschildern. Deswegen weiß ich auch, dass wir irgendwo zwischen Bochum und Essen auch durch Gelsenkirchen fahren.
Ansonsten gibt es Brombeersträucher ohne Ende und mindestens einmal kommen wir auch an Springkraut vorbei und ich muss mich sehr zusammenreißen, nicht zu bremsen und erstmal eine halbe Stunde, Springkrautsamenkapseln aufzudrücken. Aber wenn ich jetzt noch damit anfange, dann kommen wir überhaupt nicht mehr nach Hause.
Am Mechtenberg legen wir eine Biergartenpause ein, recherchieren, wo wir so lang müssen, und teilen uns eine Currywurst mit Pommes. Kurze Zeit später verlassen wir dann den offiziellen Radweg, denn bis Zeche Zollverein wollen wir nicht fahren. Statt dessen fahren wir wieder auf regulären, für Autos gedachte und ausreichend hügeligen Straßen durch Schonnebeck und Frillendorf bis ins Zentrum und von da aus nach Hause.
Der Rückweg war länger, hat länger gedauert, war aber auch schöner. Und ich habe Bilder gemacht.
Fazit der Tour: Fahrradtouren durchs Ruhrgebiet kann man gut machen. Die eigens dafür gedachten Radwege sind auch durchaus zu empfehlen. In der Stadt selber muss man aber manchmal lachen, so goldig sind die Versuche, Essen oder auch Bochum in irgendeiner Art radfahrtauglich zu machen.
Oder, um es anders zu sagen: Als nächstes kaufen wir Fahrradhelme.
(Wir haben übrigens auch auf der Rückfahrt Gegenwind. Wollte ich nur erwähnt haben.)
Das Lügenschild
Hübsche Brücke Nummer 1
Schrebergartenidyll
Hübsche Brücke Nummer 2
Leihrad, diesmal mit einwandfrei funktionierender Gangschaltung
Windradding am Fuße der Halde Rheinelbe. Da sind wir aber nicht noch raufgefahren. Beim nächsten Mal eben.
Zur Erinnerung: Wir befinden uns immer noch mitten im Ruhrgebiet.