Ich probiere ja mittlerweile fast alles. Das war früher nicht so. Als Kind war mir so gut wie jede Form von Gemüse höchstsuspekt. Ich bin dann aber doch irgendwie groß geworden und vielleicht ist es ja der Tatsache geschuldet, dass meine Eltern mich nie nötigten, irgendetwas zu essen, was ich nicht mochte, dass ich jetzt gerne auch mal abenteuerlichere Dinge probieren.
Jedenfalls saßen der Mann und ich vor vielen Jahren in Lüttich in einem schönen Restaurant und wollten so richtig lecker belgisch essen. Die Karte war selbstverständlich nur auf Französisch und unser Stolz erlaubte nicht, mal nachzufragen, um was es sich denn bei den einzelnen Gerichten handeln könnte. Immerhin kann ich ganz gut Französisch und so konnte ich sowohl Kalbskopf als auch Schweinsfüße identifizieren und ausschließen. Die als Lütticher Spezialität angepriesenen Fleischbällchen klangen mir zu sehr nach schnöden Frikadellen und so blieb irgendwann nur noch die geheimnisvolle “Andouillette” übrig.
(Wer weiß, was Andouillette ist, kann an dieser Stelle schon mal anfangen, herzlich zu lachen. WIR WUSSTEN ES HALT NICHT BESSER!)
Denn erstens wurde die mit Linsen serviert und mit Linsen kriegt man mich eigentlich immer und zweitens stand da “rôti” und das verband ich mit gebratenen Hähnchen und Grillgut im Allgemeinen und schlossfolgerte knallhart, dass es dann ja nicht so schlimm sein könnte, denn Innereien zum Beispiel, die grillt man ja nicht.
Frohen Mutes bestellte ich also Andouillette, was die Bedienung auch ohne mit der Wimper zu zucken aufnahm. Zunächst gab es die Vorspeisen, Salat mit Ziegenkäse und Zwiebelsuppe, beides vollkommen harmlos und gut. Nach der Vorspeise verschwand der Mann kurz auf der Toilette und als er wiederkam, war nicht nur die Hauptspeise am Tisch angekommen, sondern ich bereits verzweifelt.
“Ich kann das nicht essen”, wimmerte ich.
Der Mann hatte etwas anderes bestellt, ich weiß aber nicht mehr was, denn der ganze Restaurantbesuch ist von der Erinnerung an die unheilvolle Andouillette so überschattet, dass ich kaum etwas anderes erinnere.
Während der Mann also recht glücklich anfing, von seinem Teller zu essen, hielt ich ihm ein Stück Andouillette unter die Nase.
“Probier mal”, forderte ich ihn auf.
Der Mann nahm die Gabel, roch einmal und gab sie mir zurück.
“Das ess ich nicht”, sagte er.
Die Andouillette, ein wurstartiges Irgendwas, das schon beim Aufschneiden seltsam aussah und roch wie… ja, wie eigentlich? Nicht gut auf jeden Fall. Nicht wie etwas, das man freiwillig essen möchte. Dazu kam die, nennen wir es “eigenwillige” Konsistenz, leicht gummiartig teilweise, mit interessanten Mustern. Vor allem aber der Geruch.
Verzweifelt versuchte ich, mehr als einen Bissen von dem komischen Ding auf meinem Teller runterzubringen. Ich schaffte, nur Dank meiner immensen Willenskraft, immerhin drei Bissen, bis ich aufgab und niedergeschlagen zumindest noch ein bisschen was von den Linsen runterbrachte.
Währenddessen mutmaßten wir, was ich denn da eigentlich so auf dem Teller haben könnte. Der Mann meinte, er habe schon mal gehört, dass man in Belgien Ratten essen würde, also wäre das vermutlich Ratte da auf meinem Teller. Da ich jetzt auch das französische Wort für Ratte nicht parat hatte, konnte diese Vermutung spontan weder bestätigt noch verworfen werden. Heute wissen wir, dass es keine Ratte war und ich würde auch mal behaupten, Ratte wäre weniger schlimm gewesen. Ratte schmeckt vermutlich wie Hühnchen.
Meinen vollen Teller räumte die Bedienung ebenso professionell ohne “Hat’s geschmeckt?”-Kommentar ab. Wahrscheinlich bin ich nicht der erste Mensch, der an einer Andouillette scheiterte, auch nicht in diesem Lütticher Restaurant. Vielleicht bin ich nur der erste Mensch, der Andouillette bestellte ohne zu wissen, was das sein könnte. Aber wahrscheinlich bin ich noch nicht mal das.
Die Aufklärung folgte erst wieder zu Hause. Andouillette ist eine Innereienwurst, hauptsächlich aus dem Darm und Magen vom Schwein, es kann aber auch noch anderes drin sein, auch von anderen Tieren. Als wir meinem Onkel die Geschichte erzählten, hatte der schon bei der ersten Erwähnung von “Andouillette” Lachtränen in den Augen.
“Kennst du das?” fragten wir ungläubig.
“Ja klar”, sagte er. “Pisswurst!”
Damit wäre das dann auch geklärt.
Es bliebe noch anzumerken, dass “meine” Andouillette sogar das Gütesiegel der französischen Andouillette-Gesellschaft “Association amicale des amateurs d’andouillettes authentiques”, kurz AAAAA, hatte. Es war also bestimmt eine sehr gute Andouillette. Ich konnte sie trotzdem nicht essen und ich möchte es auch nicht noch mal versuchen.
Auf der anderen Seite: Selbst wenn ich gewusst hätte, was Andouillette ist, dann hätte ich das sicherlich irgendwann bestellt, einfach, um zu wissen, wie das schmeckt. Denn woher soll man denn wissen, ob etwas gut oder schlecht schmeckt, wenn man es nicht probiert hat. In diesem Sinne ist diese Geschichte schon eine Warnung, sie soll aber niemanden davon abhalten, nicht mutig zu sein, und das Abenteuer “Andouillette” selber zu wagen. Man muss ja auch mal was wagen im Leben.
Irgendwo hier in der Ecke spielte sich das Drama ab.
Da wir von der Andouillette des Grauens kein Bild gemacht haben, hier als Ersatz ein Bild einer äußerst leckeren Lütticher Waffel. Die empfehle ich uneingeschränkt, es gibt kaum Besseres.
Ein Axolotl im Lütticher Aquarium. Hat nichts mit der Geschichte zu tun, aber es ist ein Axolotl. Axolotl gehen immer. (Das Lütticher Aquarium befindet sich im Keller irgendeines anderen Museums und ist sehr klein und dunkel. Es kostet aber nicht viel und es gibt Axolotl, fiese weiße Hüpfwasserfrösche und einen augenlosen Fisch. Es lohnt sich also.)