Gelesen im Juli 2017

Cold Comfort Farm von Stella Gibbons

Ein Klassiker, der genremäßig sehr schwer zu packen ist. Gesellschaftssatire mit ein bisschen Science-Fiction vielleicht, aber letztlich ist es ja auch egal.

Flora Poste, Anfang 20 und gerade Waise geworden muss ihr Leben planen. Arbeiten kommt nicht in Frage, denn, so denkt sie, sie hat ausreichend viele Verwandte, die sie sicherlich bei sich unterbringen können. Ihre Wahl fällt auf Cold Comfort Farm, einer düsteren Farm mit seltsamen Bewohnern irgendwo in Sussex. Obwohl Flora dort nicht gerade herzlich empfangen wird, lässt sie sich nicht beirren. Schnell ist sie sich sicher, dass ihre Aufgabe hier sein wird, der Farm und ihren Bewohnern zu helfen, ob sie das wollen oder nicht, da sie alleine offensichtlich nicht dazu in der Lage sind. Es ist ein bisschen wie Austens Emma, nur sympathischer.

Das Buch wurde 1932 veröffentlicht, spielt aber 1946. Das ist für Leser aus dem Jahr 2017 etwas verwirrend, tut dem Spaß aber keinen Abbruch. Große Empfehlung, als nächstes wird die Verfilmung geguckt.

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Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt von Jaroslav Kalfar

Jakub Procházka ist der einzige Passagier an Bord der JanHus1, dem ersten Raumschiff der tschechischen Geschichte, auf dem Weg zur mysteriösen Choprawolke. Vier Monate hin, Daten und Wolkenstaub sammeln, und dann wieder vier Monate zurück. Jakub ist ein Held, aber gleichzeitig der einsamste Mensch der Welt. Dann verlässt ihn seine Frau Lenka und gleichzeitig entdeckt er ein seltsames spinnenartiges Wesen mit menschlichen Lippen, dass in seinen Erinnerungen wühlt und seinen Nutellavorrat vertilgt.

Das ist die eine Seite der Geschichte von „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“, die andere Seite ist Jakubs Vergangenheit, seine Kindheit in der sozialistischen Tschechoslowakei, die mit dem Fall des eisernen Vorhangs und gleichzeitig mit dem Tod seiner Eltern endet. Sein Vater, so stellt sich heraus, war ein hoher Regierungsbeamte, der auch vor Folter nicht zurückschrak und schnell holt die Vergangenheit den Jungen ein und wirft sein Leben durcheinander.

Alles das und noch viel mehr findet sich in diesem Buch und auch, wenn mir die Science-Fiction-Anteile ein bisschen zu kurz kamen, war es gerade der Einblick in das Tschechien der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, der mich begeistert hat. Vielleicht, weil auch meine Familie dort Wurzeln hat, auch wenn das sehr lange her ist, vielleicht auch, weil es so nah und doch so weit weg ist.

Das alles ist angenehm ruhig, beinahe schon anachronistisch, zumindest aber mit viel Nostalgie erzählt, die Figuren sind gut entwickelt und so fügt sich nachher alles zusammen, und mal wieder könnte man die Rolling Stones bemühen, denn auch Jakub bekommt nicht unbedingt das, was er wollte, aber vielleicht genau das, was er brauchte.

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Die Unglückseligen von Thea Dorn

Ich weiß ja nie, was ich von Thea Dorn halten soll. Einerseits finde ich gut, wie sie sich im literarischen Betrieb durchsetzt, andererseits ist sie mir schon unangenehm durch Subkulturschelte aufgefallen.

In Die Unglückseligen erzählt sie die Geschichte des unsterblichen Johann Wilhelm Ritter und der Molekularbiologin Johanna Mawet. Während Ritter mit seinem Schicksal hadert, forscht Mawet an der Unsterblichkeit. Als sich die Wege der beiden zufällig in den USA kreuzen, glaubt Johanna diesem runtergekommenen seltsamen Mann kein Wort und hält ihn für einen Verrückten. Doch nach und nach kann er sie davon überzeugen, dass er tatsächlich über 200 Jahre alt ist und wird zu Johannas Versuchsobjekt.

Die Unglückseligen ist ein Buch über Wahnsinn und Obsession, über Verfall und Unsterblichkeit. Es ist zweifellos gut geschrieben, wenn auch an der ein oder anderen Ecke vielleicht doch etwas zu aufgesetzt, und sicherlich keine leichte Lektüre, liest sich aber insgesamt recht flüssig weg. Ich bin noch unschlüssig, was ich vom Ende halten soll, das dann doch so ganz anders war, als ich es mir vorgestellt habe. Immerhin wundert man sich auf den letzten 150 Seiten nicht mehr so arg über den Titel des Buches. Die Unglückseligen ist irgendwie eine Art Wissenschafts-Science-Fiction mit historischem Zeug für Intellektuelle. Wenn man jetzt „Genau mein Ding!“ denkt, ist man gut aufgehoben.

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Nahe Jedenew von Kevin Vennemann

Ein Bücherschrankfund. Ich arbeite ja nebenberuflich an meinem Kunstprojekt „Die gesamte Suhrkamp-Bibliothek aus Bücherschränken zusammenklauben“. Es zieht sich etwas, aber mit viel Geduld denke ich, dass ich schon in ein- oder zweihundert Jahren einen schönen Regenbogen im Schrank stehen habe.

So landete jedenfalls auch Vennemanns Nahe Jedenew bei mir und weil es so schön dünn ist und gerade Wochenende war, habe ich direkt angefangen, reinzulesen. Worum es geht, muss man sich auch als Leser erst erschließen. Ich habe noch während der Lektüre angefangen, dem Buch hinterher zu googeln, um mehr über den Autor und den Hintergrund der Geschichte zu erfahren. Dann aber weiß man: Es geht um zwei Mädchen, Zwillinge, irgendwo in einem polnischen Dorf, in dem die katholische Bevölkerung in einer Nacht ihre jüdischen Nachbarn umbringen, die Höfe plündern und anzünden. Die beiden Mädchen fliehen in ihr Baumhaus und beobachten von da aus, wie die Idylle ihrer Kindheit ein jähes Ende findet. Sprachlich vermischen sich ihre Erinnerungen und die Erzählungen der Erwachsenen mit dem Grauen der Gegenwart. Das ist erst anstrengend, wenn man sich dann aber reingelesen hat, sehr wirkungsvoll. Ungefähr so stelle ich mir einen modernen Klassiker vor, im besten aller Sinne.

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Die Chaos-Walking-Trilogie von Patrick Ness

Der erste Teil war ein Bücherschrankfund, mitgenommen, weil ich das Buch sowieso auf der Wunschliste hatte. Und weil es dann eben tatsächlich sehr gut und spannend war, habe ich die beiden anderen Teile als e-Books dann direkt auch gelesen.

Ganz vorneweg: Wer die Panem-Bücher mochte und etwas ähnliches sucht, der kann exakt hier aufhören zu lesen und sich zum Buchhandel seiner Wahl begeben.

Für alle die, die etwas mehr wissen wollen: Todd lebt in Prentisstown, einer Siedlung auf einem fremden Planeten, in der es nur Männer gibt, seit die Frauen durch einen Virus alle getötet wurden. Dieser Virus wurde von den Spackle freigesetzt, die auf diesem Planeten leben und gegen die Menschen Krieg führten. Ein unangenehmer Nebeneffekt des Virus: Die Gedanken aller Menschen werden hörbar und Tiere können sprechen. Todd ist mit fast dreizehn der jüngste Einwohner von Prentisstown. Mit dreizehn wird er zum Mann erklärt werden, aber vorher kommt alles anders. Todd entdeckt bei einem seiner Streifzüge durch den Sumpf ein Loch in dem allgegenwärtigen Gedankenlärm und ehe er es sich versieht, wird er von seinen Zieheltern weggeschickt. Nur mit einer Karte und einer Ahnung, warum und wohin er gehen soll, ist Todd auf einmal ganz allein auf der Flucht.

Damit habe ich zwar wirklich nur die allerersten Kapitel der Buchreihe angerissen, aber alles andere wäre in der Tat zu viel verraten. Die Geschichte ist spannend, voller Wendungen und Überraschungen, es geht um Freundschaft und Menschlichkeit und die Frage, wie viel wir bereit sind, von uns selbst zu opfern, um zu überleben.

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AchtNacht von Sebastian Fitzek

Mein erster Fitzek und ich war etwas unterwältigt. Die Geschichte ist verhältnismäßig einfach erzählt: Benjamin Rühmann will im Leben einfach nichts gelingen. Die Tochter liegt nach einem Selbstmordversuch im künstlichen Koma, von seiner Frau ist er getrennt und jetzt ist er auch noch aus seiner Coverband geflogen. Zu allem Überfluss ist auf ihn aber auch noch ein Kopfgeld von 10 Millionen Euro ausgesetzt. Er ist Kandidat der AchtNacht, einer Jagd, bei der dem, der ihn tötet eben genau dieser Gewinn zusteht. Zwölf Stunden lang ist er vogelfrei und das ganze Land ist hinter ihm her.

Das klingt spannend und – hier das Positive – ist es auch. Nicht ohne Grund habe ich das Buch an einem Tag weggelesen, flott geschrieben, mit guten bis durchschnittlichen Wendungen (die finale Wendung war mir allerdings etwas zu simpel) und interessanten Ideen. Die Hauptfiguren sind ausreichend gut gearbeitet, während der ein oder andere Nebencharakter allerdings schon etwas zu überspitzt gezeichnet ist.

Aber. Die ganze Szenerie war mir nicht konkret und glaubwürdig genug. Spielt die Geschichte in der Gegenwart, so ist mir die krasse Zeichnung der Gewalt zu unglaubwürdig. Spielt die Geschichte in der Zukunft, so gibt es hierfür keinerlei Anzeichen, dafür hätte es zumindest das ein oder andere Detail gebraucht. Es gibt keine richtige Verortung und so fühlt sich das Setting insgesamt zu wischiwaschi an, als hätte der Autor es sich an entscheidenden Stellen zu einfach gemacht, was zu Gunsten der Spannung, aber eben zu Lasten des Gesamtgefühls geht.

Man kann das gut als Zwischendurchlektüre lesen, dem Hype wird es nicht gerecht.

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Lieblingstweets im Juli (Teil 2)

OLYMPISCHE DISZIPLINEN! FARBFOTOS! DARTWETTBEWERBE! UND SAGT IMMER NEIN ZU DROGEN!

Omblèze, 1993

Ich fahre mit Mama und Papa, meiner Cousine Sarah und Michaela, der Tochter einer Bekannten aus Tschechien nach Frankreich. Wir fahren wieder in die Nähe von Beaufort-sur-Gervanne, aber diesmal in ein anderes Haus. Sarah hat im Sommer Geburtstag und wird 13, Michaela ist zwei Jahre älter als wir, ich bin zwölf.

Wir haben zwei Ferienwohnungen auf einem Bauernhof, der ganz am Ende einer Straße auf einem Berg ist. Der Hof gehört Madame und Monsieur Mallory, die wohnen auch im Haupthaus und noch ganz viele andere Leute, Verwandte und Arbeiter und viele Kinder.

Es gibt einen Hund und einen Stall mit Ziegen, deswegen sind auch überall Fliegen. Michaela, Sarah und ich haben die eine Ferienwohnung und meine Eltern wohnen in der anderen. Unsere Wohnung ist eigentlich nur ein großer Raum, die Toilette ist mit einem Vorhang abgetrennt und überall sind Fliegen. In der Küche von den Mallorys hängen lauter Fliegenfänger von der Decke.

Wir entwickeln Methoden, um die Fliegen zu fangen. Am effektivsten ist es, Flaschen mit Wasser und Spülmittel zu füllen und dann den Flaschenhals von unten über die Fliege zu stülpen. Dann fällt die Fliege ins Wasser und ertrinkt. Mir tun die Fliegen leid, deshalb lasse ich die anderen weiter Fliegen fangen, mache aber nicht mit. Die Fliegen machen ja auch gar nichts, sie nerven nur, wenn sie einen morgens im Bett auf der Haut kitzeln. Wenn man sie beobachtet, wie sie beim Frühstück die Marmeladenflecken auf dem Esstisch anrüsseln und sich die Flügel putzen, sind sie eigentlich sogar ganz niedlich.

Wir sind mit einem Auto unterwegs, wir müssen ja auch überall hinfahren, weil wir wirklich der allerletzte Hof am Ende der Straße sind, zu Fuß kommt man überhaupt nirgendwo hin. Aber das letzte Stück ist so steil und die Straße ist so schlecht, dass Papa Angst hat, dass das Auto kaputtgeht, also müssen wir an der letzten Kurve immer aussteigen und den Rest zu Fuß gehen.

Ich unterhalte mich mit den Mallorys und spiele mit den Kindern und dem Hund. Ich kann schon ganz gut Englisch und ein bisschen Französisch, nach den Sommerferien komme ich in die achte Klasse.

Einmal gibt es ein Gewitter, direkt über uns, mitten in den Bergen. Es ist sehr unheimlich, erst liege ich mit Mama und Sarah und Michaela im Bett, dann gehe ich zu Papa in die Küche. Ich weiß nicht, was ich beruhigender finde. Auf einmal gibt es einen lauten Krach und das Licht geht aus. Eigentlich ist es mitten am Tag, aber es wird trotzdem sehr dunkel. Es klopft an der Tür und da steht Madame Mallory mit einer Kerze und fragt, ob bei uns alles in Ordnung wäre, der Blitz wäre in die Leitung eingeschlagen. Aber eigentlich ist ja alles in Ordnung, es ist nur etwas unheimlich, so ein Gewitter in den Bergen.

Auch meine Oma ruft mal an, um zu wissen, wie’s uns geht und ob alles in Ordnung ist. Oma hat auf dem Gymnasium Französisch gelernt und möchte gerne mit Madame Mallory auf Französisch reden.

Als ich schon wieder zu Hause bin, bekomme ich Post von Mallorys mit Grüßen und Fotos mit mir und den vielen Kindern.

(Wer wissen will, wo der Hof genau war, der klickt hier.)

Île d’Oléron, 1992

Wir fahren zelten auf die Île d’Oléron und diesmal kommt die halbe Familie mit, Mama und Papa und ich, drei Tanten, zwei Onkel und fünf Cousinen und Cousins. Außerdem kommt unser Zwergdackel Susi mit. Ich bin elf.

Wir bekommen einen Platz ganz hinten auf dem Campingplatz, wo wir unsere Zelte aufstellen können. Onkel M. hat ein rotes Wohnmobil, da ist sogar eine kleine Küche drin mit Kühlschrank.

Mama und Papa bauen unser Zelt auf einer kleinen Anhöhe auf, die anderen weiter unten. Direkt dahinter geht es schon zum Meer.

In der ersten Nach gibt es ein Gewitter mit Sturm. Mama und ich liegen in unseren Schlafsäcken und Papa läuft immer wieder raus und guckt, ob die Heringe noch fest sind. Irgendwann kommt er nicht wieder rein und Mama fragt, was er macht. „Ich halt das Zelt fest, damit es nicht wegfliegt!“ ruft Papa und dann dauert es nicht lange, bis wir alles ganz schnell zusammenpacken. Ich ziehe mit Susi unterm Arm zu Sarah ins Schlafzelt und Mama und Papa versuchen noch, das Zelt abzubauen und alle Sachen unterzubringen.

Am nächsten Tag ist wieder Sonne und danach gibt es auch kein Gewitter mehr. Das Zelt bauen wir jetzt trotzdem unten bei den anderen auf.

Wir frühstücken zusammen und dann sind wir meistens am Strand. Wir paddeln auf unseren Luftmatratzen aufs Meer und bauen Kanalsysteme in den Sand, so nahe am Meer, dass die hereinschwappenden Wellen die Kanäle mit Wasser füllen.

Susi scharrt immer Sand in ihren Napf, niemand versteht, warum.

Ich lerne ein Mädchen aus Deutschland kennen. Sie heißt Nicole und ihre Eltern haben einen Wohnwagen und sie hat einen Hund, einen Münsterländer. Ich verbringe viel Zeit mit Nicole, weil mir bei uns manchmal zu viel los ist und als die Ferien vorbei sind, tauschen wir unsere Adressen aus, damit wir uns schreiben können.

Einmal fahren wir in einen Vogelpark und gehen da spazieren. Es ist sehr heiß. Mein kleinster Cousin Max ist erst drei und beißt mich, aber Tante B. sagt, das macht er mit Leuten, die er mag.

Penvénan, 1991

Ich bin wieder nur mit Mama und Tante M. und Robert und Dennis unterwegs, diesmal fahren wir in die Bretagne an die Nordküste, denn da haben Tante H. und Tante R. mit ihren Familien ein Haus gemietet und wir fahren mit den Zelten hinterher und bleiben in der Nähe auf einem Campingplatz.

Ich habe einen Hanni-und-Nanni-Sammelband aus der Bücherei dabei, ein ganz großes Buch, in dem alle 18 Bände sind und weil ich so schnell lese, schaffe ich jeden Tag einen Band. Außerdem habe ich schon die Englischbücher für das nächste Schuljahr dabei, weil ich Englisch so toll finde und schon weiterlernen will, nächstes Jahre komme ich in die sechste Klasse, ich bin zehn.

Das Haus ist von außen schön, aber innen drin ist es ganz dunkel, es hängen komische kitschige Bilder an der Wand und überhaupt ist alles seltsam.

Zum Baden fahren wir ans Meer, in einer kleinen Bucht ist ein Sandstrand, links und rechts sind Felsen, auf die man draufklettern kann. Wenn man sich traut, kann man dann auch runterspringen, aber das Wasser ist sehr, sehr kalt, also gehen wir gar nicht richtig viel ins Wasser.

Morgens frühstücken wir bei uns im Zelt, aber abends sind wir oft bei den anderen im Haus. Meine Backe tut beim Kauen weh, und Mama meint, das käme bestimmt von dem Baguette, weil man da immer so dran reißen muss beim Abbeißen. Tatsächlich habe ich aber Mumps, auf beiden Seiten, gleichzeitig. Weil ich krank bin und Fieber habe, darf ich im Haus schlafen. Onkel G. ist Arzt und weiß, was zu tun ist.

Irgendwer hat eine Kassette mit der Dschungelbuchgeschichte mitgenommen und im Haus hören wir sie rauf und runter und singen alle Lieder mit.

Wir fahren an einen anderen Strand, an dem viele Felsen sind. Wir klettern auf die Felsen und springen von einem zum anderen. Sarah und ich sind die ältesten und müssen auf die kleineren aufpassen, wenn es mal gefährlich wird.

Einmal kommt ein Stierkampf in die Stadt, eine Arena wird aufgebaut und alle wollen hin, aber ich finde Stierkämpfe doof und uninteressant und bleiben mit meinen Tanten zu Hause. Als die anderen zurückkommen sagen sie, es wäre langweilig gewesen, außerdem wäre der Stier gar kein Stier gewesen, sondern eine Kuh.

Les Sables-d’Olonne, 1990

Ich bin mit Mama und Tante M., einer Freundin von M., meinem Cousin Robert und seinem Freund Dennis auf einem Campingplatz irgendwo in der Nähe von Les Sables-d’Olonne. Papa ist dieses Jahr nicht mitgekommen. Im Auto hören wir abwechselnd meine Rolf-Zuckowski-Kassetten und eine Kassette mit Oldies von Mama. Ich mag The Eve of Destruction besonders gerne, dafür finde ich A Horse With No Name und In The Year 2525 doof. Nach den Ferien komme ich aufs Gymnasium, dann lerne ich endlich Englisch, ich bin neun.

Auf dem Campingplatz gibt es keine richtigen Toiletten, nur Kabinen mit einem Loch im Boden. Es stinkt und ist voller Fliegen. Ich gehe in den zwei Wochen exakt einmal auf dem Campingplatz auf Klo, weil es mir zu eklig ist.

Einmal gehen wir zum Angeln ans Meer, ich fange direkt einen kleinen Fisch. Er hängt am Haken und zappelt umher und tut mir ganz furchtbar leid. Wir pulen den Fisch vom Haken und werfen ihn wieder zurück ins Meer, aber ich ahne schon, dass er vielleicht nicht überleben wird. Danach gehe ich nie wieder Angeln.

Wir machen einen Ausflug zu einer Salinenanlage. Man kann mit Schiffchen durch die Salzwasserbecken fahren. An der Ablegestelle wartet eine Familie aus Deutschland mit zwei Töchtern, die ältere ist in meinem Alter. Wir reden nicht viel, beschließen aber, Brieffreundinnen zu werden und ich schreibe mir ihre Adresse auf. Sie heißt Kathrin und kommt aus Warendorf. Wir fahren nicht im selben Boot, Kathrin und ihre Familie fahren zuerst, wir in dem Boot danach. Als wir wieder anlegen, wartet Kathrin auf mich. Sie will noch meine Adresse haben, damit sie mir vielleicht noch aus dem Urlaub eine Karte schicken kann. Ich diktiere ihr die Adresse, „Zuger Klause 18“, sage ich. „Neues Wort?“ fragt Kathrin und ich denke, was für eine komische Frage, das weiß ich doch nicht, ob das ein neues Wort für sie ist. Aber Kathrin will nur wissen, ob Klause ein neues Wort ist oder ob der Straßenname zusammengeschrieben wird. Ach so. Neues Wort, na klar.

Meine erste Postkarte von Kathrin bekomme ich tatsächlich noch aus ihrem Frankreichurlaub. Es ist ein Kätzchen und ein Häschen darauf. Ein paar Briefe später finden wir heraus, dass wir am selben Tag geboren wurden.

postcard

Aubenas, 1989

Wir sind wieder mit K. und U. und Sebastian im Urlaub, wir fahren nach Aubenas, das ist eine richtige Stadt. Die Ferienwohnung hat einen Garten mit Obstbäumen, von dem wir die reifen Früchte pflücken können.

Zum Baden fahren wir an die Ardèche, das ist ein Fluß mit Kiesstrand. Ich freunde mich mit einem französischen Mädchen an, sie heißt Lise und wenn ich mitkommen soll, sagt sie „Allez“, das kenne ich nur aus dem Zirkus, da sagen sie „Allez-hop!“, aber was es bedeutet, weiß ich nicht, ich spreche ja kein Französisch, ich bin acht. Aber ich weiß, dass Lise meint, dass ich mitkommen soll, und dann fangen wir kleine Fischer mit unseren Keschern.

Ich habe eine Kassette mit Kinderliedern und einen Walkman, damit kann ich immer Musik hören, wenn ich will.

Außerdem will ich, dass wir zusammen Gesellschaftsspiele spielen, aber U. sagt, sie spielt nicht mit. Sie sagt aber auch, dass sie das nur sagt, damit ich mich freue, wenn sie dann vielleicht doch mitspielt und nicht umgekehrt, wenn sie jetzt ja sagt, aber dann doch nicht will, enttäuscht bin. Das leuchtet mir ein, aber sie spielt dann halt doch einfach nicht mit.

Einmal gehen wir ins Schwimmbad in der Stadt, das ist aber überhaupt nicht so wie die Schwimmbäder bei uns zu Hause, es ist klein und voll und es gibt gar keine Wiese, sondern nur Steinplatten um das Becken mit Liegestühlen. Wir gehen also auch nur einmal ins Schwimmbad, denn am Fluss ist es schöner.

Beaufort-sur-Gervanne, 1988

Wir sind schon wieder in Beaufort, es ist Herbst und ich bin acht. Diesmal sind wir nicht mit M. und G. und Lisa hier, sondern mit K. und U. und ihrem Sohn Sebastian, aber der ist noch ein Baby, ich bin sieben und werde bald acht. Außerdem ist Linda mit dabei, die Tochter von Freunden von K. und U. Linda ist ein bisschen jünger als ich.

Wir lernen eine Familie aus Stolberg kennen, die haben ein Haus gekauft, noch weiter hoch am Berg, es ist aber noch ein Baustelle. Die Küche ist groß und das Wasser kommt direkt von einer Quelle. Die Töchter heißen Lene und Ellen. Lene ist so alt wie ich und Ellen ein paar Jahre jünger. Lene hat ein Hörgerät, weil sie fast taub ist, das Hörgerät nennt sie „Horchi“.

Wir gehen auf den Friedhof vor der kleinen Kapelle. Der Friedhof ist klein und wurde irgendwann mal umgegraben, wenn man etwas sucht, kann man Zähne und Knochen finden.

Als wir in einer kleinen Stadt unterwegs sind, fasziniert mich die Sprache, in der die anderen Menschen reden, so schnell, ich verstehe überhaupt nichts. Ich möchte aber gerne verstehen, was die Leute reden. In einem Geschäft gibt es Drachen. Ich wünsche mir einen Drachen und darf mir einen aussuchen.

Ich habe meine Blockflöte mitgenommen und ein Notenheft und spiele Kinderlieder von einer Kassette nach und schreibe die Noten dazu auf. In dem Haus gibt es viele Bücher auf Holländisch, aber nicht so viele auf Deutsch, sonst könnte ich die lesen.

Die Erwachsenen wollen immer spazieren gehen, aber das ist langweilig.

Beaufort-sur-Gervanne, 1987

Das Haus liegt an einem Hang direkt an der Straße, man guckt auf Berge und dazwischen kleine Häuschen und die kleine verfallene Kapelle. Mit dem Auto fährt man lange, lange auf einer kleinen kurvigen Straße von Beaufort zum Ferienhaus oder eben zurück, der nächste Bäcker ist in Beaufort, es kommt einem vor wie eine Ewigkeit, wenn die Straße eine Kurve um den Felsen macht, hupt man, für den Fall, dass einem jemand entgegenkommt.

Das Haus ist groß und drumherum ist nur Natur, Papa stellt seine Malaise-Falle auf, ich darf mit seinem Schmetterlingsnetz Insekten fangen. Lisa mag das Weiße vom Ei nicht.

Wir baden in der Gervanne, das Wasser sammelt sich in einem kleinen Becken und strömt über glatte Felsen in ein größeres Becken, eine natürlich Wasserrutsche, Lisa und ich rutschen und rutschen, auf Luftmatratzen oder einfach auf dem Po. Das geht, weil wir noch klein und leicht sind, ich bin sechs. Das Wasser in dem großen Becken ist dunkel und tief und unheimlich, ich rutsche lieber.

Im Dorf hängt ein Bild von einem Mädchen, das ertrunken ist. Das Bild ist gruselig, ein aufgequollenes Gesicht, schwarz-weiß hängt es dort angeschlagen, damit jeder es sehen kann. Niemand weiß, wer das Mädchen ist, das ertrunken ist. Deswegen hängt das Bild damit, damit sich jemand meldet, der es weiß.