Supermarktszenen

Im Supermarkt. Eine Frau schiebt ihren Einkaufswagen am Milchprodukteregal entlang, ihr Mann hält ihr einen Brombeerjoghurt hin, sie schüttelt nur den Kopf, sagt „Nein“ und schiebt den Wagen ungerührt weiter.

Der Mann möchte aber zumindest eine Erklärung für die Brombeerjoghurtablehnung. „Aber ich habe doch frische Brombeeren gekauft“, sagt sie.

Ich stupse meinen Mann an. „Ich habe gerade unsere Zukunft gesehen“, sage ich. Aber davon will er irgendwie nichts wissen.

Neues vom Unterbewusstsein

Knapp zwei Monate schreibe ich jetzt meine Träume auf. Exakt nach einer Nacht konnte ich mich an überhaupt nichts mehr erinnern, da fiel ich aber auch höchst übermüdet und ziemlich betüddelt um 4:30 Uhr ins Bett. Ein paar Mal blieben nur ein paar Erinnerungsbrocken übrig, meistens aber weiß ich am nächsten Morgen, was ich geträumt habe. Ich schreibe dann immer sofort alles in der Traum-App auf, oft in Stichworten und mit vielen Schreibfehlern, denn man muss alles so schnell wie möglich verarbeiten, sonst ist es weg. Beim Übertragen der Träume aus der App in ein Gesamtdokument konnte ich mich auch an ein paar Details überhaupt nicht mehr erinnern, aber wenn ich sie morgens so notiert habe, werden sie wohl so gewesen sein.

Mit zwei Monaten Traumdaten kann man jetzt schon ein bisschen was anfangen. Zum einen habe ich kaum schlechte Träume. Letztens wurde ich verfolgt und man legte mir mehrfach Bomben ins Auto, ich wurde aber nicht verletzt und während meine gesamte Tasche mit Laptop und Portemonnaie verschmort waren, war sogar der Golf noch heile. So ein Traumgolf ist offenbar sehr stabil. Eine Apokalypse hatte ich auch schon mal, allerdings waren wir dafür immerhin in einem vermeintlich sicheren Lager untergebracht.

Ansonsten träume ich eigentlich fast immer nur seltsames Zeug, das mal mehr und mal weniger interessant ist. Bei einer Auswertung der vorkommenden Personen stand dann doch mit großem Abstand mein Mann ganz vorne, gefolgt von meinen Eltern (meine Mutter mit leichtem Vorsprung vor meinem Vater), danach die Familie meiner Tante und dann der Rest. Irgendwas lässt sich daraus bestimmt deuten, mich beruhigt ein bisschen, dass die Personen, die auch im realen Leben die größte Rolle spielen, auch in meinen Träumen am häufigsten anwesend sind. Ich habe mittlerweile von insgesamt sieben meiner elf Cousinen und Cousins geträumt und von allen direkten Kollegen. Ich habe aber auch schon Til Schweiger, Donald Trump und Hans-Dietrich Genscher geträumt, außerdem von diversen Menschen, die ich nur übers Internet kenne, es ist also völlig unvorhersehbar.

Ansonsten träume ich oft von Hunden (mindestens drei Mal auch von mir bekannten Hunden), aber so gut wie gar nicht von Katzen. Dafür kam aber auch schon mal ein Faultier vor. Fahrzeuge spielen regelmäßig eine Rolle, ich fahre Fahrrad und im Auto, war immerhin schon zwei Mal in einem Flugzeug und sitze gefühlt jeden zweiten Traum in irgendeiner Art Zug.

Es ist also alles in allem doch ein recht großer Spaß und irgendwie werde ich bestimmt auch etwas über mich lernen, ich weiß nur noch nicht so genau, was. Damit aber auch alle anderen etwas davon haben, hier noch ein paar Highlights aus dem letzten Monat:

Vorneweg direkt mein Lieblingstraum aus dem März:

Wir sind in einem Café und wollen frühstücken. Die Bedienung sagt, dass es Pfannkuchen gibt und zwar zwei unterschiedliche Variationen. Ich frage nach, was es denn dazu gäbe und sie zählt auf. Die erste Variation ist süß, allerdings mit Bananen und Obst, die zweite herzhaft. Ich sage, dass ich beides nicht so doll finde, mein Mann findet aber, dass ich die süße Variante nehmen soll. Ich frage nach, ob ich die auch ohne Bananen haben kann und sage: „Ich hasse Bananen!“ Die Bedienung sagt, dass das geht und geht zur Theke. Ich rufe sicherheitshalber noch mal „Keine Bananen und keine Rosinen!“ hinterher. 

Dazu muss man vielleicht wissen, dass ich weder Rosinen noch Bananen mag. Es ist doch schön, dass man auch im Traum noch der gleiche Mensch mit den gleichen Essenseigenheiten ist.

Sind bei der Familie meiner Tante. Es geht um Musikinstrumente, meine Cousine klappt ein Keyboard auf, bei dem die Tasten mit Symbolen (z.B. Obst) markiert sind. Dazu gibt es ein Liederbuch mit Popsongs, allerdings eben auch ohne Noten, sondern nur mit Symbolen. Ich versuche etwas zu spielen, scheitere aber erst mal, weil ich mich gar nicht so schnell an den Symbolen orientieren kann.

Ein recht frustrierendes Erlebnis übrigens.

Mein Mann und ich sind am Meer oder an einem Fluss und sitzen an einer Promenade mit Wasserblick auf einer Bank. Wir müssen aufbrechen und packen alles ein, ich bekomme aber nicht alles in die Tasche und weiß nicht, wie wir das vernünftig transportieren sollen. Übrig bleibt ein Therapy-Spiel und noch etwas blaues, ein Heft oder eine Mappe von der Größe und Dicke her.

Regelmäßig freue ich mich über den Detailgrad meiner Traumerinnerungen. Ein Therapy-Spiel, das habe ich zuletzt in den Neunzigern gespielt, aber es bleibt doch im Gedächtnis hängen.

Bekomme eine Rechnung von einer Detektivagentur. Auf der ersten Seite steht nur, dass sie zu dritt in einem Motel hätten übernachten müssen, was insgesamt 112 Euro oder Dollar gekostet hätte. Das finde ich zwar doof, aber okay. Die eigentliche Rechnung beläuft sich dann (Schockschwerenot!) auf 4995 Euro (oder Dollar). Das finde ich dann doch etwas viel, zumal ich davon ausgegangen war, dass die Rechtsschutzversicherung das abdeckt.

Tatsächlich habe ich das in einer Nacht geträumt, in der ich zu einer Folge von den Drei ??? eingeschlafen bin.

Ich muss (von der Firma aus) nach München fliegen, dafür aber erst mit einem Bus fahren. Irgendwann bemerke ich, dass wir schon echt lange fahren, und vermute, dass es sich einfach jetzt auch nicht mehr lohnt, das Flugzeug zu nehmen und wir ersatzweise einfach mit dem Bus nach München fahren. (Als ich aus dem Fenster gucke, sind wir gerade in Leverkusen bzw. Opladen.)

Genauer gesagt befanden wir uns an der Ecke Kölner Straße/Robert-Blum-Straße und auch dieses Detail finde ich wieder sehr faszinierend.

Ich bin am Bahnhof, und habe den Zug verpasst. Am Bahnhof sind solche Zeitschriftenregale wie in der Bücherei und ich nehme mir eine Brigitte, um die Zeit zu vertreiben. Es gibt ein Psychoquiz “Welcher Wahltyp sind Sie?”, es geht aber nicht darum, welche Partei man wählen sollte, sondern, wie man wählen sollte, also eher Briefwahl oder ins Wahlbüro gehen. Es gibt aber mehr als zwei Ergebnisse, also gibt es wohl auch noch mehr Möglichkeiten, zu wählen.

WTF? Und warum nehme ich ausgerechnet eine Brigitte?

Ich suche etwas zum Anziehen und finde ein blaues Trägerkleid, darunter passt ein dunkelblaues T-Shirt, ich nehme aber sicherheitshalber noch einen flauschigen rosa Pulli, den ich darüber anziehen kann.

Keines der beschriebenen Kleidungsstücke besitze ich übrigens in der Realität.

Donald Trump ist mein Klavierlehrer, er ist mir aber auch irgendwie suspekt. Wir sind irgendwo in Iowa, wo die Häuschen alle nebeneinander in Reihe stehen. Offensichtlich wollen wir eine Bunkerbesichtigung machen, es hat eventuell auch etwas mit einem Atomkraftwerk zu tun. Meine Mutter ist auch dabei und sehr skeptisch, sie versteht nicht, was die Besichtigung soll. Trump bietet ihr an, dass sie mitkommen kann, sie lehnt aber ab und meint, sie könne mich ja nachher abholen.

Nach dem Apokalypsentraum vielleicht der beunruhigendste Traum des letzten Monats. Niemand, wirklich niemand, sollte mit Donald Trump in einem Bunker eingesperrt sein (so ging es nämlich weiter).

Gelesen im Februar 2016

Im Februar zu wenig gelesen und dann auch noch nicht dazu gekommen, die Monatsreview zu schreiben. Dann wollte ich das zusammen mit den Märzbüchern machen, im März habe ich aber so furchtbar viel gelesen, dass es dann ein sehr langer Beitrag werden würde, also jetzt doch wieder als einzelner Beitrag. Muss man jetzt nicht verstehen, ist halt einfach so.

Fünf Wochen im Ballon von Jules Verne

Auf Französisch gelesen, einfach, weil ich mein Französisch irgendwie fit halten muss und die Verne-Bücher fürs Kindle umsonst sind. Dafür kann man dann darüber diskutieren, ob man jetzt gerade mit Verne sein Französisch besonders fit hält, denn die Sprache ist ja nun nicht die modernste. In Fünf Wochen im Ballon geht es genau um das, nämlich eine West-Ost-Durchquerung Ost-West-Durchquerung von Afrika in einem Heißluftballon, drei Mann in einem Ballon quasi. Das ist insgesamt ganz spannend, vor allem zum Schluss kommt noch mal Action auf, es ist aber auch typisch Verne und damit teilweise auch ein bisschen anstrengend und streckenweise etwas zäh, zumal, wenn man es im Original liest.

Jules Verne: Fünf Wochen im Ballon [Amazon-Werbelink]

 

Der Pfau von Isabel Bogdan

Der erste Roman von Isa, lange sehnlichst erwartet und im Februar endlich erschienen. Ich habe mich für die Hörbuchversion, gelesen von Christoph Maria Herbst entschieden. Irgendwo in den schottischen Highlands leben Lord und Lady McIntosh auf einem alten Landsitz und vermieten die Cottages an Touristen, die mal ganz entspannte Tage mitten im Nichts verbringen wollen. Dann spielt eines Tages ein Pfau verrückt und attackiert alles, was blau ist und glänzt. Und dann kommt auch noch eine Reisegruppe aus London zu einer Teambuildingmaßnahme. Vier Banker, die Chefin, die Kommunikationstrainerin und eine Köchin nisten sich für ein Wochenende mehr oder weniger freiwillig ein. Und dann kommt es natürlich so, wie es kommen muss, der Pfau geht auf das blaue Auto der Chefin los, Lord McIntosh muss handeln und dann wird aus dem ruhigen Wochenende doch ein ganz und gar verzwicktes, an dem ein armer verrückter Pfau nicht nur einen, sondern gleich mehrere Tode sterben muss.

Das ist alles sehr flockig erzählt und von Christoph Maria Herbst schön vorgelesen, man kann es in einem Rutsch weglesen und danach vielleicht direkt den nächsten Schottlandurlaub buchen, das Anwesen der McIntoshs gibt es nämlich wirklich, man achte auf die Widmung im Buch.

Isabel Bogdan: Der Pfau [Amazon-Werbelink]

 

Planet der Algorithmen von Sebastian Stiller

Ein Buch über Algorithmen für Leute, die noch nicht so viel über Algorithmen wissen, die aber gerne lernen wollen, worum es eigentlich geht, schon allein, weil wir in unserer Welt immer mehr mit Algorithmen zu tun haben. Das klingt erst mal gut und ist auch ordentlich umgesetzt, irgendwo ungefähr zur Hälfte hat mich der Autor aber verloren. Ich habe zwar vermutlich auch ein bisschen mehr mit Algorithmen zu tun als der Durchschnittsleser und die Zielgruppe, spätestens bei dem ein oder anderen deutlich theoretischen Teil wurde es mir dann aber doch zu… nun ja… theoretisch. Entweder bestimmte Aspekte lassen sich nicht einfach erklären oder man braucht ein paar Seiten und Beispiel mehr dazu. So war es jedenfalls nicht gut gelöst, trotzdem gibt es in diesem Buch viele gute Erklärungen, was Algorithmen sind und wie sie – ganz grob zusammengefasst – funktionieren.

Sebastian Stiller: Planet der Algorithmen [Amazon-Werbelink]

Lieblingstweets im März (Teil 2)

AUFWÜHLENDE PINGUINE! AVOCADO-TOAST! BESTECKKASTEN-ORDNUNG! GEFÄHRLICHE EULENTÜRME! RENTIERBLUSEN UND EICHHÖRNCHENKLEIDER!

Empörungs(un)wille

Es passieren Unglücke. Jetzt also wieder, in Brüssel. Es gibt Explosionen, Menschen sterben, die Nachrichtenticker laufen heiß und man kann sich nicht entscheiden zwischen abschalten und dranbleiben. Es ist alles schrecklich, alles so unbegreiflich, wer soll schon sagen, was man sagen könnte. Ich weiß das nicht.

Statt dessen beobachte ich mit zunehmendem Unmut bestimmte Standardreaktionen, die sich grob als moralische Medienschelte zusammenfassen lassen könnten. Zwei davon sind mir in der letzten Zeit wieder aufgefallen, sie sind aber beide nur ein Puzzleteil eines größeren Bildes des vermeintlich aufgeklärten Filterbubbleinternetmenschen. Der vermeintlich aufgeklärte Filterbubblemensch hat die nächste Erkenntnisstufe erreicht und stellt seit neuestem die Medien, die anderen Menschen und generell alles in Frage, was den hochgesteckten Ansprüchen nicht gerecht werden zu scheint. Dabei ist es nicht die einzelne Bemerkung, die das Problem ausmacht, nicht der einzelne Mensch, den ich oft kenne und mag und dem ich auch nichts Böses unterstellen würde, sondern die allgemeine Selbstverständlichkeit, mit dem diese Kommentare nicht nur geschrieben, sondern auch vielfach zustimmend abgenickt werden.

 

„Warum ist es eigentlich wichtig, zu wissen, ob unter den Toten Deutsche sind?“

Ich habe diese Frage nicht zum ersten Mal gehört und auch nicht zum ersten Mal beantwortet. Die latente Unterstellung bei dieser langjährigen journalistischen Praxis ist, so bilde ich mir jedenfalls ein, immer die Annahme, ein toter Deutscher wäre schlimmer als ein toter Belgier oder Franzose oder Türke oder Inder. Das sind doch alles Menschen! Wie kann man da einen Unterschied machen! Wem bringt das was?

Die Antwort ist einfach: Es bringt den Menschen etwas, die zu Hause sitzen, wohlwissend, dass ihre Tochter, ihr Enkelsohn, ihre Partnerin oder ihr Vater gerade irgendwo dort sind, wo das Unglück passiert sind. Natürlich kann man einfach anrufen. Was aber, wenn gerade niemand dran geht oder das Netz überlastet ist? Die Information, dass keine Deutschen unter den Opfern sind, bringt da vielleicht schon die nötige Erleichterung, man kann zwei bis zehn Gänge runterschalten und kann vielleicht mit weniger Sorge auf eine Meldung des anderen warten. Sollte sich hinter dieser Information doch noch etwas anderes verbergen, so lerne ich gerne dazu und bitte um Aufklärung.

Genauso könnte man bei einem Flugzeugabsturz auch fragen: „Warum ist es eigentlich wichtig, zu wissen, welches Flugzeug abgestürzt ist?“ Da sitzen doch immer Menschen drin, es ist doch egal, welcher Flug es war. Nur, dass die Nennung der Flugnummer weniger verwerflich ist, vielleicht weil sie einen Grad weiter von den Menschen selber entfernt ist. Weil wir eine Flugnummer eher als reine Information sehen, während wir der Nennung der Nationalität der Opfer eine andere Bedeutung unterstellen. Dabei ist eine Flugnummer für die Bewertung von Leben genauso irrelevant wie die Nationalität.

 

„Eine Todesnachricht als ‚BREAKING‘! Ist das nicht pietätlos?“

Nein. Nein, ist es nicht. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber aus einer Eilmeldung über den Tod eines Menschen, der in der Öffentlichkeit stand, wird einfach keine Pietätlosigkeit, es sei denn, man bastelt sich selber eine zusammen. Eine breaking news ist erstmal eine Eilmeldung und eine Eilmeldung sagt zunächst nichts anderes als „Das ist gerade reingekommen und wir waren der Meinung, es ist so wichtig, dass die Menschen es sofort erfahren sollten, ohne dass wir erst einen langen Text dazu schreiben!“

Stünden Paparazzi vor der Tür, gäbe es Bilder von weinenden Angehörigen, stünden Journalisten mit gezückten Notizblöcken vor Krankenzimmern und würden alle paar Minuten klopfen und sich nach dem aktuellen Stand erkundigen, das wäre pietätlos. Doch ich gehe davon aus, dass das nicht der Fall ist, dass im Gegenteil die Angehörigen genau diejenigen sind, die den Zeitpunkt bestimmen, zu dem die Nachricht publik gemacht wird. Nicht zuletzt erfährt man von dem Tod vieler Berühmtheiten erst ein oder zwei Tage später.

Was übrig bleibt, ist die Eilmeldung und die Unterstellung, dass es den Medien nur darauf ankommen würde, immer der jeweils erste und schnellste zu sein. Statt dessen wünschen wir uns eine… was eigentlich? Eine zweistündige Karenzzeit, in der in den Redaktionen traurig die Köpfe gesenkt und mühsam die Tippfinger stillgehalten werden?

Vielleicht gibt es sogar nichts eiligeres als die Nachricht, dass ein Mensch nicht mehr ist. Nicht zuletzt ist es eine der wenigen Nachrichten, die ohne viele Erklärungen funktioniert. Ein Mensch ist gestorben, was gibt es da noch mehr zu zu sagen, kaum eine Nachricht ist wohl leichter verständlich und trifft gleichermaßen ins Herz. Die Geschwindigkeit, in der sich gerade Todesmeldungen auf Twitter und Facebook verteilen, die Anteilnahme, die R.I.P.-Tweets und die kurzen Erinnerungen, die nach so einer Meldung geteilt werden, sind vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass die Eile vielleicht nicht beim Tod, aber doch beim Öffentlichmachen desselben gar nicht zu verurteilen, sondern höchst menschlich ist.

 

Doch auch jenseits von Katastrophen und Todesmeldungen beobachte ich immer wieder, wie sich über die Empathielosigkeit der Mitmenschen beklagt wird. Tatsächlich kann ich mir kaum etwas Empathieloseres vorstellen als einem fremden Mensch das Fehlen einer der wesentlichen menschlichen Fähigkeiten abzusprechen. Diese Paradoxie wird leider nicht thematisiert. Statt dessen hagelt es auch hier Zuspruch, alle sind sich einig, dass alle anderen da draußen irgendwie doof sind.

„Empören zieht nichts nach sich. Es ist nur fürs Empören gut. Also lehne ich es ab. Ich bin also nur noch privat empört“, sagt Pia Ziefle. Empören ist menschlich, kaum einer von uns kann ohne, aber wir sollten immer überlegen, welche Empörung dafür geeignet ist, öffentlich ins Internet geschrieben zu werden und welche wir lieber abends auf dem Sofa unseren Partnern oder Freunden vortragen.

Natürlich rege ich mich auch über andere Menschen auf. Die, die sich vordrängeln, die, die über den Zebrastreifen fahren ohne zu gucken, die, die in der Bahn einsteigen, bevor alle ausgestiegen sind. Aber das Erkennen von Scheißverhalten macht mich nicht zu einem besseren Menschen genauso wenig wie das Scheißverhalten selber den anderen zwangsweise zu einem schlechten Menschen macht. Die Selbstverständlichkeit, mit der anderen Empathielosigkeit unterstellt wird, erschreckt mich jedes Mal. Dahinter steckt auch immer die Weigerung, anderen Menschen die Komplexität zuzugestehen, die wir für uns selber jederzeit in Anspruch nehmen.

 

Metaempörung ist auch Empörung

Es ist die ewige Suche nach dem Geschmäckle. Ein bisschen wie ein Wettbewerb, wer das Herz am rechteren Fleck hat. Die gute Nachricht ist aber: Das Herz sitzt bei uns allen am gleichen Fleck. Es ist auch gut, die Medien (was auch immer man darunter versteht) zu kritisieren, genauso, wie man auch langjährige Praktiken in Frage stellen kann. Möglicherweise sind sie ja tatsächlich überholt. Und doch beschleicht mich immer wieder diese leise Verdacht, es würde sich auch immer öfter aus Prinzip empört. Empören um des Empörens willen. Da hab ich gar keine Zeit zu, das ist mir viel zu anstrengend, raubt und saugt Energie, die man viel besser für schönere Dinge gebrauchen könnte. Als Hobby finde ich das nicht empfehlenswert, weder für mich noch für andere.

Eventuell haben wir aber bei der dauernden Suche nach Weltverbesserungspotential auch ein bisschen die Orientierung verloren und stürzen uns lieber auf Nichtigkeiten anstatt uns gelegentlich zurückzulehnen und „Ach, eigentlich ist auch nicht immer alles schlimm!“ zu seufzen. Vielleicht haben wir zwar immer noch viele Baustellen, aber auch schon einiges geschafft.

„Aber mit jedem Beitrag, den man über die falsche Empörung anderer schreibt, macht man sich zu einem Teil der Empörungsmaschine“, warnt Kathrin Passig mich, als ich mich über die Empörung der anderen empöre. „Metaempörung ist auch Empörung.“

Natürlich hat sie Recht. Eigentlich will ich mich gar nicht empören. Wenn mir das Internet eines gezeigt hat, dann, dass wir alle ohne Ausnahme im Laufe unseres Internetlebens dumme Dinge schreiben ohne dass es uns gleich zu schlechten Menschen machen würde. Da draußen ist es auch nicht anders. Wer weiß schon, wie oft wir uns aus Versehen rücksichtslos verhalten ohne es zu merken, weil wir gerade in Gedanken sind, mit uns selbst beschäftigt, in Eile. Etwas mehr Gelassenheit mit der Fehlbarkeit unserer Mitmenschen und unserer eigenen Fehlbarkeit tut nicht nur gut, es schafft auch Raum und Zeit, um uns über die wirklich wichtigen Dinge empören zu können. Das wäre doch auch schön.

Die anderen Leute

Wenn man in der Stadt lebt, dann lebt man mit anderen Leuten zusammen. Je nachdem, wo man wohnt und wer man ist und wer die anderen Leute sind, kennt man die Nachbarn im eigenen Haus oder eben nicht. Beides ist in Ordnung. Wenn ich in Essen im Sommer durch den Stadtpark gehe, dann ist dieser voll mit kleinen Gruppen von Mensche, die auf Einweggrills Würstchen grillen, in der Sonne liegen oder Federball spielen. Das Aalto-Theater liegt auch im Stadtpark und ich finde kaum etwas schöner als de Kontrast der Leute, die in der Pause mit Sektgläsern auf der Opernterrasse stehen, während weniger Meter weiter Studenten im Gras sitzen und es ist völlig egal, auf welcher Seite man ist. Alles passiert nebeneinander und durcheinander und es sind solche Momenten, bei denen ich denke, dass das Leben in der Stadt in viel höherem Maße sozial ist als das auf dem Dorf, denn hier muss ich mich dauernd mit neuen Leuten auseinandersetzen, Leuten, die ich nicht kenne und deren Lebenswelt vielleicht eine ganz andere ist als meine, aber wir teilen uns einen Park und wir sind beide gerade hier, auch wenn wir uns wahrscheinlich danach nie wieder sehen. Das ist so eine schöne Semianonymität, mit der ich gut leben kann.

Die Leute in unserem Haus kenne ich zum Beispiel, aber das Haus ist auch nicht groß und wir wohnen immerhin schon fünf Jahre da. Und dann gibt es noch die anderen Leute, die man fast jeden Tag sieht, die bekannten Gesichter in der Straßenbahn, die genauso jeden Tag um 7:30 Uhr morgens an der Haltestelle stehen und auf die U17 warten. Die zwei Kinder mit ihrer Mutter, die offensichtlich Britin oder Amerikanerin ist, denn sie spricht Englisch mit ihren Kindern. Der Teenager, der sich im Tunnel in der Fensterscheibe spiegelt und die Frisur prüft. Am Hauptbahnhof steigen die meisten aus, drängen sich durch die Wartenden und da verlieren sich dann unsere Wege wieder.

Wir reden nicht. Immer wieder sitzen wir uns gegenüber, lernen ein bisschen mehr über den anderen oder auch nicht. Immer wieder frage ich mich, ob die anderen Leute über mich auch denken „Ach, die schon wieder. Wo die wohl hinfährt? Wie die wohl heißt? Was die wohl so macht?“, aber sie fragen mich ja nicht, genauso wenig, wie ich es fragen würde, obwohl ich es ja auch immer wieder denke.

Und dann reden wir doch. Letztens zum Beispiel, als die Bahn etwas später kam, so dass ich zur nächsten Haltestelle weiter lief, aus Ungeduld und für den Schrittzähler. An der nächsten Ecke kam mir eine Frau entgegen, die mit den schulterlangen grauen Haaren und der Mütze. Etwas verwundert guckte sie mich an, ob denn etwas wäre. Nein nein, sagte ich, die Bahn komme nur etwas später, und dann würde ich immer zur nächsten Haltestelle gehen, aber sie kommt, die Bahn.

Oder letzte Woche in der Bahn, ich saß neben dem Mann mit Bart und der coolen Schiebermütze und der Aktentaschen, auf die ich ein bisschen neidisch bin. Der Mann, von dem ich weiß, dass er nicht nur mit mir in der U17 fährt, sondern danach auch in den gleichen Zug nach Köln steigen wird. Erst in Deutz laufen wir in andere Richtungen. „Nächste Woche fahren die Bahnen wieder“, jubelt er. „Juchu!“ jubele ich zurück. Wir fachsimpeln ein bisschen über die seltsame Streckenführung, fragen uns, wo der Zug wohl langfährt, wenn der Halt in Düsseldorf entfällt, sind aber vor allem froh, dass das Elend der letzten drei Monate, in denen das abgebrannte Stellwerk repariert und unser Arbeitsweg erheblich beeinträchtigt war, vorbei sind.

Wir reden nicht dauernd, die anderen Menschen und ich. Wir möchten auch unsere Ruhe haben, morgens in der Bahn, die heilige Zeit, die man sich in den Sitz lehnen kann und mit niemandem plaudern muss. Aber wir wissen, wer da noch an der Haltestelle steht und manchmal gibt es ein weiteres Puzzlestück dazu und manchmal auch nicht, es ist auch völlig egal. Manche Menschen kommen dazu, andere sind auf einmal nicht mehr da. Umgezogen, Job gewechselt, andere Arbeitszeiten. Wir leben in der Stadt und kennen auch nur ein paar Leute, aber so viel mehr, die wir grüßen, wenn man sich auf der Straße begegnet, der Typ vom Büdchen, die Frau vom Edeka, die von der Currywurstbude, die von gegenüber und der nebenan. Aber wir kennen uns irgendwie.

Vielleicht muss es gar nicht immer ein Miteinander sein. Für den Alltag ist so ein durcheinanderes Nebeneinander völlig ausreichend und das Miteinander heben wir uns für die besonderen Tage auf.

Lieblingstweets im März (Teil 1)

TRINKHALMEINSTICHSTELLEN! BURNOUT VON BESTELLVORGÄNGEN! POLYRHYTHMIK! SCHOSTAKOWITSCH! EINGEFRORENER KUCHEN! UND DIE IGEL DES MÄRZ!

Gelesen: Sommernovelle von Christiane Neudecker und Wenn’s brennt von Stephan Reich

Sommernovelle und Wenn's brennt

Zwei Bücher, die gleicher und ungleicher nicht sein könnten: Die Sommernovelle von Christiane Neudecker und Wenn’s brennt von Stephan Reich. In beiden Büchern geht es um Teenager, Ferien, die Frage, was kommt und die Frage, was eigentlich ist. Deswegen ergibt es auch Sinn, beide zusammen zu rezensieren, denn so sehr sich viele Themen ähneln, so sehr unterscheiden sich die Bücher in so vielen anderen Dingen, und das macht gerade das spannende aus.

In Sommernovelle fährt Panda, deren wirklichen Namen wir nie erfahren mit ihren besten Freundin Lotte auf eine Insel in der Nordsee, um als Freiwillige in einer Vogelstation zu arbeiten. Es ist Pfingsten 1989, Panda und Lotte sind 15 Jahre alt, sie sind zum ersten Mal alleine von zu Hause weg, voll mit Ideen und Plänen, die Welt zu verbessern, die ohnehin am Abgrund steht. Saurer Regen, Tschernobyl und all das, Pandas Doc Martens, die sie sich vom angesparten Taschengeld geleistet hat und zu Hause hat der Vater Krebs. Auf der Vogelstation arbeiten Hiller und Sebald, zwei alte Männer, das mürrische Fräulein Schmidt und die Studenten Melanie und Julian. Der Professor, der die Station leitet, ist abwesend. Während Panda sich von Hiller beibringen lässt, wie man den Himmel liest, was in diesem Fall bedeutet, die Anzahl der Vögel eines Vogelschwarms zu schätzen, verliebt sich Lotte in Julian. Vögel beobachten, Vögel zeichnen, Vögel zählen, Eier zählen, Touristenführungen machen, das alles während eines heißen Pfingstfrühlings Ende der Achtziger Jahre.

Zu Hause hatten wir im Herbst mit der Umwelt-AG ein kleines Wäldchen säubern müssen. Mit Handschuhen und Greifzangen hatten wie moosüberzogene Safttüten eingesammelt, Kondome und poröse Plastikfetzen aus dem Gestrüpp gezogen, verrostete Dosen aus dem angrenzenden Weiher gefischt. Schon im Frühling lag dort wieder genauso viel Müll herum wie vorher. Aber davon durften wir uns nicht beirren lassen, das war mir klar. Aufgeben galt nicht. Aufgeben war feige.

Als wir auf den Deich traten, blendete mich einen Moment lang das Watt. Der Himmel spiegelte sich in dem feuchten Film, den das zurückweichende Meer auf dem schlammigen Boden hinterließ und die Priele reflektierten das Licht und zogen glimmende Goldadern.

Christiane Neudecker wird auch zugeschrieben, dass sie eine Meisterin der Atmosphäre sei und nichts könnte richtiger sein. Ich war nur einmal an der Nordsee (und dann noch nicht mal auf einer Insel) und bin immerhin grob sechs Jahre jünger als Panda und Lotte, aber selten kam mir eine Geschichte so vertraut vor. Die Ängste und Sorgen, die Vorstellungen von der Welt, manche richtig, manche naiv falsch, das alles war sechs Jahre später gar nicht so viel anders. Auch ohne große Weltretterphantasien, aber immerhin mit einem Vater, der auf einer biologischen Station gearbeitet hat und mit einem Kinderzimmer voller Tierposter, die mein Vater mir mitbrachte oder die ich sorgfältig aus dem Tierfreund rauslöste, war es mir ein Leichtes, mich in Panda einzufühlen und die detaillierten, aber auch für Landschaftsbeschreibungsmuffel wie mich immer stimmigen und nie langweiligen Beschreibungen lassen den Leser einen heißen Spätfrühling auf einer Nordseeinsel so mit erleben als wäre man selber dabei. Sommernovelle ist eines der wenigen Bücher, bei denen man sich beim Zuklappen schon recht sicher sein kann, dass man es auf jeden Fall noch mal lesen wird.

Wenn’s brennt von Stephan Reich spielt hingegen in der Gegenwart, irgendwo auf dem Dorf in den Sommerferien. Der sechzehnjährige Erik, der die Geschichte erzählt, wird nach den Ferien die Lehre bei der Post anfangen, während sein bester Freund Finn, seine Freundin Nina und Kumpel Nelson, der eigentlich Sascha heißt, in der Kreisstadt in die Oberstufe gehen werden, Abitur machen, studieren, was auch immer. Erik ist es eigentlich auch egal, wie ihm so vieles egal ist.

Man trifft sich auf dem Schotter, um zu saufen und zu kiffen, einfach so, weil man das eben macht und weil es auf dem Dorf auch nichts besseres zu tun gibt. Zu Hause will niemand so richtig sein, Erik verachtet seine Eltern für ihre Spießbürgerlichkeit, nur mit seinem behinderten Bruder Tim kann er reden, schon allein, weil der ihm nicht antworten kann, ihm keinen Stress machen, keine Forderungen stellen. Finns Mutter schläft seinen Kunstlehrer, sein Vater ist in Hamburg mit seiner neuen Paris-Hilton-Schnitte und Nelson lebt mit seinem Bruder bei der Oma, bei der sie die Eltern irgendwann abgeliefert haben, um danach zu verschwinden.

So passiert eigentlich die ganze Zeit nichts und doch sehr viel, all der Scheiß, den man anscheinend macht, wenn man keine Perspektive hat, einen alles ankotzt, man nur weg will, aber nicht weiß wohin, wenn die Eltern sich nicht interessieren und nach den Ferien sowieso alles anders ist. Und so steuern die Freunde in Wenn’s brennt genauso mäandernd wie zielstrebig auf die erwartbare Katastrophe zu.

Nelson kommt mir entgegen, er hat eine Flasche Wodka in der einen und einen Plastikbecher in der anderen, und natürlich muss ich mit ihm trinken. Ich gehe pissen, ich höre auf zu pissen, ich vergesse, dass ich Finn suchen wollte, und suche Nina, aber dann fällt es mir wieder ein und ich suche Finn, was ich aber wieder vergesse, also hole ich mir ein Bier. Als ich mit dem nassen Beck’s aus dem Bad komme, steht Karin vor mir, die etwas sagt, das ich nicht verstehen, und mir in den Schritt greift. Sie lacht ganz laut und schrill, aber ich kann sie nicht verstehen, die Musik ist zu laut.

Wenn’s brennt ist gleichermaßen spannend wie liebevoll geschrieben und bewegt sich irgendwo zwischen harten Ausdrücke, Schlägereien und Saufgelagen und nostalgischen Erinnerungen, Freundschaftsbeweisen und der immer wiederkehrenden Erkenntnis, dass es so vermutlich auch nicht ewig weitergehen kann. So fremd mir dieser Aspekt des Jugendlichenseins ist, aus Eriks Sicht wirkt es gar nicht so fremd, alles ergibt irgendwie Sinn, was soll man auch tun, mit 16 auf dem Dorf, wenn einen die Eltern nicht verstehen und die Lehre bei der Post der einzige Zukunftsplan ist, weil nie ein anderer zur Verfügung stand.

Ein bisschen störend sind die Popkulturreferenzen, bei denen man sich irgendwann fragt, ob Jugendliche, die mit 16 außer Rumhängen, Trinken und Kiffen wirklich nicht viel anderes im Sinn haben, wirklich all diese Filme und Bücher gesehen und gelesen haben. Bis zu einem gewissen Grad mache ich da noch mit, und die Szene, in der Erik fast gerührt über die Platte mit Dust in the Wind spricht, die sein Vater irgendwo haben muss, ist dann eben genau das: Rührend und auch gar nicht so unglaubwürdig. Spätestens bei der Referenz auf Die Welt ohne uns von Alan Weisman fand ich es aber doch etwas zu viel. An solchen Stellen stellt sich doch der Verdacht ein, dem Autor würde seine eigene popkulturelle Erfahrung und die des Erzählers (der immerhin knapp fünfzehn Jahre jünger ist als er) etwas zu sehr durcheinanderwürfeln.

Während sich die Teenagerleben in Neudeckers Sommernovelle sehr versöhnlich mit der Welt zeigen, wo die Sorgen zwar auch groß sind, aber auch nach allem Verrat durch die Erwachsenenwelt die Hoffnung darauf, es besser zu machen, nicht stirbt, so treten die Jugendlichen in Wenn’s brennt auf der Stelle, wollen oder können nicht und selbst wenn, wüssten sie nicht wie und die es wollen und können und wissen, die gehen eben. Und so erzählen Sommernovelle und Wenn’s brennt irgendwie die gleiche Geschichte und könnten doch unterschiedlicher nicht sein.

Sommernovelle von Christiane Neudecker [Amazon-Werbelink]

Wenn’s brennt von Stephan Reich [Amazon-Werbelink]