Neue Momentaufnahmen, Herbst 2015 in Deutschland

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Ich fahre mit der Straßenbahn von Köln-Deutz zum Heumarkt. Neben mir sitzen zwei Männer, dunklere Haut, schwarze Haare, woher sie kommen vermag ich nicht zu sagen. Warum sie mir auffallen, weiß ich gar nicht, aber irgendwas am Blick des einen ist anders, ein bisschen unfokussierter vielleicht, die Augen etwas glasiger, ich bin nicht gut im Lesen von Gesichtern.

Ich erhasche einen Blick auf die Zettel, die der andere Mann in der Hand hält. Behördenschreiben, irgendwas mit Asyl und dass mich das jetzt gar nicht wundert, ist vielleicht am erschreckendsten. Ansonsten sehen die Männer nicht anders aus als jeder andere Mensch, der hier irgendwann mal von woanders hergekommen ist. Oder dessen Eltern von woanders hergekommen sind. Oder dessen Großeltern. Aber diese Männer sind selber gerade erst hergekommen und wissen noch nicht mal ob sie bleiben dürfen. Und jetzt fahren sie Straßenbahn in Köln, genau wie ich und alle anderen um uns herum.

 

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Im Supermarkt sehe ich einen jungen Mann zwischen den Konserven stehen und Geld abzählen. In der Hand, immer und immer wieder. In der anderen Hand hält er etwas, was, habe ich schon vergessen. Ob das Geld noch für etwas anderes reicht? Er zählt und wendet Münzen.

Ich weiß nicht, ob ich hingehen soll und sagen: „Komm, was brauchst du, ich nehm das und bezahl es.“ Aber wie bescheuert wäre das, wenn das gar kein Flüchtling ist, sondern einfach nur jemand, der gerade mal zu wenig Geld dabei hat, so wie ich manchmal auch, nicht, weil ich kein Geld habe, sondern weil ich manchmal verpeilt bin oder eben keine Zeit hatte, zum Geldautomaten zu gehen. Nur dass ich eben vom Typ her nicht die Assoziation „Flüchtling“ hervorrufe. Wie unangenehm wäre das, jemandem zu unterstellen, er könne nicht für sich selbst sorgen und bräuchte meine Hilfe, wie anmassend von mir, irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen, nur weil Menschen irgendwie aussehen und Geld zählen.

Und gleichzeitig wie furchtbar, dass ich mich nicht traue, hinzugehen und zu fragen, weil mir zehn Euro auf dem Konto nichts ausmachen, anderen Menschen aber sehr dringend fehlen. Wie doof, dass ich zu feige bin, es wenigstens zu versuchen.

Der Mann zahlt an der Kasse vor mir, als ich hinter ihm rausgehe, sehe ich, wie er an der Bäckerei abbiegt, vielleicht der Weg zum Flüchtlingsheim, vielleicht einfach der Weg nach Hause. Vielleicht ist das hier eine Flüchtlingsgeschichte, vielleicht aber auch nur die Geschichte von jemandem, der zufällig zu wenig Geld in der Hosentasche hatte. In jedem Fall ist es die Geschichte von einer jungen Frau, die immer noch nicht weiß, wie man sich am besten verhält.

 

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In Köln-Deutz warte ich darauf, dass die Leute aus dem ICE aussteigen. Ein Mann steigt heraus, auf dem Arm ein Junge, vielleicht acht Jahre oder zehn, eigentlich zu groß, um getragen zu werden, die Füße sind verbunden, beide Füße, vorne schauen die nackten Zehen hervor. Es ist November, und obwohl es für Novemberverhältnisse sehr warm ist, ist es doch ein bisschen zu kalt für halb nackte, halb verbundene Füße.

Der Mann greift hinter sich, und ich denke, aha, jetzt reicht ihm jemand den Rollstuhl nach draußen, aber es wird nur ein Trolley herausgereicht, ein kleiner Trolley, man würde eine Woche damit in Urlaub fahren, allein, vielleicht zwei, wenn man nur T-Shirts und kurze Hosen einpacken muss.

Mit der einen Hand zieht der Mann den Trolley, auf dem Arm hat er immer noch den Jungen mit den verbundenen Füßen und so geht er den Bahnsteig hinunter zum Ausgang. Und auch das ist vielleicht keine Flüchtlingsgeschichte, wer weiß das schon, aber es ist eine Geschichte aus Deutschland im Herbst 2015, als es auf einmal Flüchtlingsgeschichten gab. Überall und immer wieder und vor allem immer wieder ohne Vorwarnung.

Einkaufen 4

Ich war mal wieder einkaufen. Dieses Mal brauchte ich eine neue Tasche und weil ich sowieso mit meinem Mann in Düsseldorf verabredet war, dachte ich, ich nutze die fürs hemmungslose Taschenshopping vorhandene Infrastruktur und erledige das.

Wenn ich sage, dass ich eine neue Tasche brauchte, dann meine ich übrigens tatsächlich, dass ich eine neue Tasche brauchte. Meine alte Knomo-Aktentasche habe ich irgendwann im Frühsommer 2007 gekauft, und nach achtjährigem Dauereinsatz gab sie doch so langsam den Geist auf. Die Verarbeitung ist generell top. Irgendwann fiel mir mal ein Reißverschlussnupsi ab, das ich aber relativ einfach durch ein anderes ersetzen konnte. Vor zwei Wochen fiel mir dann aber eher zufällig auf, dass die eine Verbindungsstelle zwischen Tasche und Schultergurt doch etwas verdächtig locker saß. Das fand ich dann weniger schick. Die Option, sich eine Tasche umzuhängen ist für mich ein Schlüsselfeature, ohne braucht man mir gar nicht kommen, ich laufe ja dauernd damit rum und habe dabei gerne beide Hände frei. Vorgestern ging dann der Reißverschluss selber kaputt und da dachte ich mir dann, ich könnte mir vielleicht nach acht Jahren dann doch mal eine neue Tasche kaufen.

Nach einigen Internetrecherchen inklusive Twitterbefragung war ich ein wenig weiter, wusste, was ich eventuell wollte, was sicher nicht und wo ich das, was ich eventuell wollte in Düsseldorf kriegen könnte. Knomo gibt es im Carsch-Haus und dann fiel mir auf, dass es ja auch Taschen von Fossil gibt und mit Fossil komme ich vom Stil auch gut klar.

Bei meiner Recherche lernte ich dann auch, dass Laptop- bzw. Aktentaschen für Frauen quasi nicht vorgesehen sind. Wer eine vernünftige Laptoptasche sucht, muss bei den Männertaschen gucken. Frauen haben so Sachen wie Crossbody Taschen oder Shoppers und wenn man mich jetzt fragen würde, was das sein soll, wüsste ich es auch nicht. Frauentaschen sind grundsätzlich entweder zu klein, haben keinen Schultergurt oder sind unförmige große Monster, in die man zwar viel reingekriegt, aber auf eine ungeordnete Art und Weise, die mir widerstrebt.

Im Carsch-Haus gab es zwar tatsächlich Knomo-Taschen (allerdings selbstverständlich ausschließlich nur bei den Männertaschen), die Auswahl war aber gering und obwohl ich die Taschen zwar ganz hübsch fand, zum Beispiel ist das Innenfutter schön bunt, wollte ich zumindest bei Fossil mal gucken.

Bei Fossil wurde es dann wieder ganz seltsam. Als ich etwas suchend vor den Taschen rumstand (selbstverständlich vor den Herrentaschen, denn hübsche Aktentaschen für Frauen gibt es da auch nicht), wollte mir eine Mitarbeiterin helfen. Dass sie neu war, konnte ich mir anhand eines Gespräches mit der anderen anwesenden Mitarbeiterin erschließen.

„Ich suche eine Tasche, weil meine jetzt kaputt geht“, sagte ich also.

Etwas unschlüssig guckte die Mitarbeiterin auf die Taschen und griff dann sehr zielsicher die kleinste Tasche heraus.

„Die ist mir zu klein“, sagte ich. „Was ist denn mit der hier, was kostet die denn?“

Nach etwas Preisschuldgefummel hatte ich die Möglichkeiten eigentlich auch zwei Taschentypen reduziert, die im Wesentlichen baugleich waren, sich nur in der Größe unterschieden. Da der Laptop in die kleinere Tasche passte, ging ich optimistisch davon aus, dass er auch in die größere passen würde.

Und nun kommen wir zu dem Punkt, der mich doch etwas aus der Bahn greifen.

„Sie können auch hier im Spiegel gucken“, sagte die Mitarbeiterin, warf sich eine Tasche über und zeigte auf den Spiegel.

Etwas fassungslos starrte ich sie an.

„Ich… äh… brauche das nicht im Spiegel zu gucken“, sagte ich dann. „Ich seh doch, wie die Taschen aussehen.“

Offensichtlich begucken andere Menschen sich mit umgehängter Tasche im Spiegel. Vielleicht auch nicht, vielleicht passiert das nur in der Vorstellung von Taschenverkäufern. Ich weiß aber, wie ich mit umgehängter Tasche aussehe, nämlich genauso wie immer, nur halt mit einer umgehängten Tasche. Ich muss auch nicht testen, ob die Tasche mir passt, ich gehe einfach mal davon aus, dass sich der Schultergurt auf eine akzeptable Länge einstellen lässt und meine Hände um die Griffe passen.

Zur Verstärkung holte ich dann letztlich meinen Mann dazu, zeigte ihm die größere Tasche, dann die kleinere.

„Nimm die größere, die alte hast du doch auch schon immer ausgebeult“, sagte er. Also nahm ich die größere Tasche in braunem Leder.

Die Tasche wurde in einen Stoffbeutel gepackt und dann wurde der Stoffbeutel mit der Tasche in eine Papiertüte gepackt und ich versuchte sehr stark, nicht darüber nachzudenken, dass hier eine Tasche in einem Beutel in einer Tüte steckte und akzeptierte das einfach als weitere Absurdität des Taschenshoppens.

Hoffentlich muss ich das wieder erst in acht Jahren noch mal machen. Häufiger würde mich überfordern.

Arbeitsmaterial zu Übung 1

Das, was ich damals zu Übung 1 schrieb, hat jemand anders schon mal deutlich eloquenter und schöner formuliert, nämlich David Foster Wallace auf einer Abschlussrede. Die Rede ist unter dem Titel „This Is Water“ bekannt und auch veröffentlicht [Amazon-Werbelink].

Ein Auszug daraus wurde zu einem schönen Kurzfilm gemacht. Das kann man schön gucken, auch mehrfach, immer dann, wenn man sich mal wieder neu im Gesamtgefüge dieser Welt einordnen will.

This is Water from Patrick Buckley on Vimeo.

Drei Momentaufnahmen, Herbst 2015 in Deutschland

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Auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause überhole ich zu Fuß eine Familie, Vater, Mutter, eine kleine Tochter. Die Familie, das sieht man, hat irgendeinen Migrationshintergrund, was genau, vermag ich nicht zu sagen, aber woher sollte ich das auch wissen. Ob jemand aus der Türkei, aus Syrien oder dem Iran kommt, kann ich genauso wenig sehen wie ob jemand aus Frankreich, Holland oder Deutschland kommt.

Ein paar hundert Meter weiter komme ich an dem Flüchtlingszeltdorf vorbei. Große weiße Zelte, natürlich nicht aus Stoff, die Wände sind aus einer Art Metall, das ist schon alles sehr stabil. Vor ein paar Wochen war hier die Zufahrt zur Straße gesperrt, weil die Straße aufgerissen wurde, warum, weiß ich nicht, vielleicht musste Strom gelegt werden oder Wasser oder etwas ganz anderes, aber ich kenne mich da ja auch nicht aus. Bevor wir in Urlaub fuhren, das war Ende August, wohnte hier noch niemand.

Jetzt wohnen hier Menschen. Das merke ich auch nur, weil ich keine Kopfhörer im Ohr habe und den Menschenlärm hinter dem Zaun höre. Ein Drahtzaun zwar, aber sichtgeschützt durch viele Pflanzen, Bäume und Büsche, die davor wachsen. An den Stellen, wo man durchgucken kann, sehe ich jemanden sitzen, draußen hinter den Zelten. Hier wohnen jetzt Menschen.

Aus reiner Neugier suche ich den Eingang. Filmen und fotografieren ist ohne Erlaubnis von der Stadt verboten, betreten auch, ich komme nur bis kurz vor den Eingang, dann bin ich viel zu eingeschüchtert und außerdem weiß ich ja gar nicht, was ich hier eigentlich will, außer vielleicht das, was hier gerade passiert, nur ein paar hundert Meter von meiner Wohnung weg, mitten in der Stadt, etwas besser begreifen. Irgendwie zu fassen kriegen, was es bedeuten könnte. Aber ich habe keine Erlaubnis von der Stadt und auch sonst hier nichts zu suchen, also drehe ich wieder um und gehe zurück.

Auf dem kleinen Weg zwischen Flüchtlingsdorf und Straße kommt mir eine Familie entgegen, Vater, Mutter, eine kleine Tochter. Die gleiche Familie, die ich eben überholt habe. Die wohnen nicht nebenan in einer der Mehrfamilienhäuser mit Balkon und gemeinsamer Wiese. Die wohnen hier.

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Auf dem Weg von der Straßenbahnhaltestelle nach Hause nehme ich einen Umweg und laufe am Flüchtlingszeltdorf vorbei. Es ist schon dunkel. Auf dem Weg begegne ich zwei Männern, beide haben ein Telefon am Ohr und reden in einer Sprache, die ich nicht verstehe, die ich noch nicht mal kenne. Was spricht man in Syrien? Arabisch? Syrisch? Gibt es Syrisch? Aber vielleicht sind es ja auch gar keine Syrer, was weiß ich schon?

Weiter vorne, direkt da, wo die Zufahrt zum Flüchtlingsdorf ist, steht eine Gruppe Männer, unterhält sich und lacht. Als ich daran vorbeilaufe sehe ich: Das sind Deutsche, die sich hier nur treffen, um gleich in der Turnhalle Sport zu treiben. Die Turnhalle ist genau neben dem Flüchtlingsdorf, warum wurde da eigentlich keiner untergebracht? Statt dessen Zelte aus Metall und Stoff auf dem Sportplatz daneben. Es wird vermutlich gute Gründe gegeben haben.

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Ich sitze am ICE-Gleis am Bahnhof in Köln-Deutz und warte auf meinen Zug. Es ist Freitag, endlich Wochenende. Jetzt nach Hause, Junkfood kaufen und dann aufs Sofa. Dann fährt der Zug ein, etwas früh, denke ich, und es ist auch gar nicht mein Zug, sondern ein alter Intercity, einer von denen, wo man die Fenster noch öffnen kann. Der Zug wird langsamer, ich kann sehen, wer in den Abteilen sitzt und merke: Das ist ein Flüchtlingszug.

Am Bahnhof kommt der Zug zum Stehen, die Türen gehen nicht auf, aber dafür sieht mich eine Frau und schiebt das Fenster runter. Ich denke, dass sie mich vielleicht etwas fragen will und gehe zum Fenster, sie hält mir ein Handy aus dem Zug mit dem Bild einer Adresse in Mainz. „My brother“, sagt sie und deutet auf die Adresse. „Where is Mainz?“ „About two hours from here“, sage ich. „But south. Where you came from.“ Ich weiß nicht, ob sie mich versteht. Ein junger Mann kommt hinzu. „Dortmund“, sagt er. „How far?“ „About one hour“, sage ich. „One and a half maybe.“ „This is…?“ „This is Cologne, you are in Cologne.“

Die Frau deutet wieder auf ihr Telefon. Ich versuche, ihr zu erklären, wo Mainz ist, zwei Stunden von hier, aber nach Süden, da wo sie gerade herkommen („Where do you come from? Frankfurt? Munich?“ „Munich.“), vielleicht sind sie sogar über Mainz gefahren, aber das sage ich nicht, zu kompliziert und vielleicht auch zu frustrierend. Wie erklärt man jemandem, wo Mainz ist?

Ich versuche, die Karten-App auf meinem Handy zu öffnen, möchte ihnen zeigen: Hier sind wir, hier ist München, hier ist Mainz, da ist Dortmund. Drei Stunden von Dortmund nach Mainz, vielleicht vier, wenn sie überhaupt in Dortmund bleiben, das ist ja gar nicht gesagt. Drei oder vier Stunden von da, wo sie jetzt hinfahren bis da, wo der Bruder wohnt. Das Handy ist zu langsam, der Zug fährt ab, sie winken, ich winke. „Good luck“, rufe ich noch und frage mich gleich, ob das jetzt vielleicht das unpassendste ist, was man hätte wünschen können. Was wünscht man einem Flüchtling?

Ich setze mich wieder, während des Stops haben auch viele andere die Fenster runtergeschoben, gucken raus, lachen und winken. Ich winke zurück und lächle tapfer, obwohl ich eigentlich gar nicht mehr lächeln mag. Gefühlsverwirrung.

Als der letzte Wagen verschwindet und niemand mehr winkt, breche ich erstmal in Tränen aus.

Übung 2

(Lernfeld: Dankbarkeit/Erdung, mindestens 1x täglich durchzuführen, Zeitaufwand 5 Minuten)

Bleiben Sie mal kurz stehen, egal wo Sie sind.

Gucken Sie sich um.

Alle Häuser soweit in Ordnung?

Straßen befahrbar?

Züge fahren prinzipiell? (Stellwerksbrände sind uns hier egal.)

Geschäfte haben geöffnet und es gibt ausreichend Waren im Angebot?

Sie haben genug Geld im Portemonnaie, um sich ein Brot zu kaufen?

Telefon funktioniert? Internet sowieso?

Den Menschen geht es gut?

Kranke Menschen können zum Arzt oder ins Krankenhaus?

Sie müssen keine Angst haben vor: Bomben, Militär, Terroristen, Hunger, Durst?

Sie müssen keine Angst haben, dass Ihr Partner heute Abend nach nicht Hause kommt?

Oder ihr Kind?

Sie müssen sich nicht fragen, ob ihre Wohnung noch da ist, wenn Sie heute Abend nach Hause kommen?

Sie dürfen glauben, was Sie wollen?

Oder an gar nichts glauben?

Das ist schön.

Und selbstverständlich.

Woanders ist das nicht selbstverständlich.

Freuen Sie sich ein paar Sekunden darüber, dass es hier so fucking friedlich ist.

Wiederholen Sie die Übung nach eigenem Ermessen mehrmals am Tag, aber mindestens einmal täglich.

Übung 1

(Lernfeld: Empathie, täglich durchzuführen, Zeitaufwand 5 bis 10 Minuten)

Wenn Sie gerade unterwegs sind, an einem Bahnhof, in der Bahn, in der Stadt, irgendwo, wo viele unbekannte und möglichst unterschiedliche Menschen unterwegs sind, machen Sie folgende Übung:

Wählen sie zufällig einen Menschen aus, ganz egal wen.

Machen Sie sich klar, dass Sie nichts von diesem anderen Menschen unterscheidet.

Machen Sie sich klar, dass dieser Mensch genauso wie sie gerade etwas denkt.

Vielleicht denkt er: „Verdammt, ich muss die Bahn erwischen, sonst muss ich zehn Minuten auf die nächste warten.“

Vielleicht denkt sie: „Was muss ich denn heute noch fürs Abendessen einkaufen?“

Vielleicht denkt er etwas sehr kompliziertes, vielleicht etwas sehr einfaches.

Vielleicht erinnert sie sich gerade an etwas.

Vielleicht geht es dem anderen unbekannten ganz anderen und doch ganz gleichen Menschen gut, vielleicht geht es ihm schlecht.

Machen Sie sich klar, dass dieser Mensch ein komplettes Leben in sich trägt, genau wie Sie.

Ein komplettes Leben mit einer Familie, mit Freunden, mit Schule, mit einem Job, mit schönen Dingen und schlechten Dingen.

Machen Sie sich klar, dass dieser Mensch genauso wie Sie schon mal ganz furchtbar gelitten hat.

Weil die Oma gestorben ist.

Weil er verlassen wurde.

Weil sie nicht wusste, wo das Geld herkommen sollte.

Machen Sie sich klar, dass dieser Mensch genauso wie Sie schon mal ganz furchtbar glücklich war.

Weil sie sich verliebt hat.

Weil er Vater wurde.

Weil sie einen Job in ihrer Traumstadt gefunden hat.

Machen Sie sich klar, dass dieser Mensch genau wie alle anderen Menschen denkt und liebt und leidet, sich ärgert, Angst hat, sich freut, sich langweilt, sich beeilen muss, einkaufen muss, die Nachrichten guckt (oder liest), schläft und aufsteht, isst und trinkt.

Machen Sie sich klar, dass Sie diesen Mensch nie komplett verstehen werden, genauso wie niemand Sie jemals komplett verstehen wird.

Es ist unerheblich, ob Sie diesen Menschen mögen würden.

Vielleicht haben Sie viel gemeinsam.

Vielleicht könnten Sie sich nicht leiden, würden Sie sich näher kennen.

Aber das ist unerheblich für diese Übung.

Dieser andere Mensch hat seine eigene Geschichte.

Er hat seine eigene Vergangenheit und seine eigene Zukunft.

Er ist ganz anders als Sie.

Und dann ist er wieder ganz genauso wie Sie, nämlich ein Mensch.

Komplett ausgestattet mit Gedanken und Geschichten.

Hier und jetzt.

 

Wiederholen Sie die Übung mit dem nächsten zufälligen Menschen.

The Bahnhof That Wasn’t There

Der Bahnhof in Opladen wird ja umgebaut. Seit Jahren eigentlich schon, aber seit einigen Monaten merkt man es auch so richtig. Es ist zum Beispiel eine neue Fußgängerüberführung da, mit Treppen und Aufzügen sogar. Bisher gibt es nur einen Tunnel mit Treppen. Den muss man auch nach wie vor benutzen, aber die Überführung steht auch schon sehr eindrucksvoll rum, man darf nur noch nicht drauf.

Ich weiß das, weil ich ja regelmäßig auf Elternbesuch in Opladen bin und da dann üblicherweise am Bahnhof in Opladen ankomme.

Heute fiel mir schon im Zug kurz vorm Halt ein lustiger Tweet ein, den ich später zu schreiben beabsichtigte. Er hätte ungefähr so ausgesehen:

Mittlerweile muss man jedes Mal, wenn man am Bahnhof in Opladen ankommt, Angst haben, dass der Bahnhof weg ist.

Ich hatte dann aber keine Zeit mehr, zu schreiben, ich musste aussteigen, die Treppe runter, durch den Tunnel, Treppe wieder hoch. Oben angekommen stellte sich heraus: Der Bahnhof war weg. Statt dessen ein sehr großes Loch mit Bauzaun drumherum.

Da wäre natürlich dann auch der Tweet völlig witzlos gewesen. Gut, dass ich keine Zeit zum Tippen hatte.

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Doof finden ist einfach

Früher gab es Freundebücher, die man in der Klasse und im Freundeskreis rumgehen ließ und in die jede und jeder ein Passbild kleben und Fragen beantworten konnte. Sollte. Musste. Je nachdem, wie man’s sieht. Geburtstag, Haarfarbe, Augenfarbe, Lieblingsfach, Lieblingstier, Hobbys, alles, was man so mit zwölf Jahren brauchte, um sich irgendwie als individuelles Wesen zu identifizieren. Obwohl dann ja doch immer dasselbe drin stand. Ironie war uns damals noch sehr fremd und unsere Hobbys waren „Lesen, Musik, Schwimmen“ oder – noch nichtssagender – „Alles, was Spaß macht!“

Die beiden schönsten Fragen waren aber: „Was ich mag…“ und „Was ich nicht mag…“, alternativ auch manchmal als „Was ich doof finde…“ Hier wurde es dann besonders uninteressant. Doof fand man: Lügner, Angeber und Krieg und vielleicht in einem moralisch nicht ganz so integren Moment auch Hausaufgaben oder Gemüse. Grundsätzlich war der Was-ich-nicht-mag-Teil jedoch nicht hinterfragbar, sondern im höchsten Maße offensichtlich: Lügner, Angeber und Krieg sind eben Dinge, die nur ganz wenige Menschen und die Rüstungsindustrie gut finden und die meisten sind dann wenigstens klug genug, zu wissen, dass man das nicht öffentlich äußert.

Heute findet man immer noch Dinge doof: Lügner, Angeber und Krieg zum Beispiel. Das ist ja auch nicht falsch. Lügen, Angeben und Kriegführen ist prinzipiell abzulehnen. Zu den anderen offensichtlichen Dingen, die man doof finden kann oder sogar muss, um sich als gesellschaftlich integrer Mensch zu fühlen gehören (eine Auswahl): Shoppingcenter, Fast-Food-Ketten, Mainstream-Pop, Fertiggerichte, überteuerter Kaffee aus amerikanischen Kaffeefranchises mit Nixen im Logo, IKEA, Privatfernsehen und Dudelfunk im Radio.

Stattdessen geht man erst in den super individuellen Pop-Up-Concept-Store mit den Kleidchen eines skandinavischen Labels, von dem nur Eingeweihte wissen und der netten Inhaberin, mit der man kurz noch über Gott und die Welt plaudert. Danach geht man in  das hübsche Café nebenan mit selbst gemachten Kuchen und Quiches. Das Inventar aus Flohmarktmöbeln zusammengebastelt, alles so hübsch. Im Hintergrund läuft ein alternativer Folk-Mix von Spotify, der Kaffee wird jetzt wieder ganz altmodisch überm Filter gebrüht (voll schön, wie bei Oma damals) und wenn man dann zu Hause ist, überlegt man kurz, ob man jetzt die Dokumentation auf arte gucken soll, entscheidet sich dann aber dafür, doch lieber ein gutes Buch zu lesen.

Um das klarzustellen. Ich gehe gerne in hübsche kleine Läden und habe in eben einem solchen auch schon ein sehr teures Kleidchen eines skandinavischen Labels gekauft. Ich finde kleine Cafés ganz wunderbar und bin immer noch ein bisschen traurig, dass das kleine Café mit dem selbstgebackenen Kuchen bei uns um die Ecke wieder schließen musste. Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, Musik allgemein eher unbekannter Künstler zu suchen und zu hören, ich gucke Opernaufführungen auf 3sat und lese mehr als 50 Bücher im Jahr, die meisten davon sind sogar gut.

Nur eins versuche ich, weitgehend zu vermeiden: Dinge grundsätzlich doof zu finden. Auch Shoppingcenter haben ihren Berechtigungsgrund. Für Quartalsshopper wie mich sind Shoppingcenter ein wunderbares Konzept, wenn man wirklich mal dringend ein paar Dinge braucht, weder Zeit noch Lust hat und halt nur schnell mal durch ein paar Geschäfte huschen muss. Danke, liebes Shoppingcenter, dass bei dir alles unter einem Dach ist und dann eben auch… genau… unter einem Dach. Man muss noch nicht mal mehr raus in die Kälte. Toll!

Auch die Wichtigkeit des quasi lebensrettenden McDonalds darf man nicht unterschätzen. Mein Mann und ich verbinden längere Autofahrten gerne mit einem Besuch eines Raststätten-Fast-Food-Restaurants, das hat schon Tradition. Überhaupt habe ich vermutlich unangemessen viel Zeit meines Teenagerlebens auf Plastikschalenstühlen in diesen kulinarisch fragwürdigen Etablissements verbracht und diesen Schnellrestaurants eine kleine Ecke in meinem Nostalgieherzen freigeräumt.

Die Hälfte unseres Mobiliars stammt von IKEA, ich habe mit Faszination mehrere Male hintereinander das Video von Taylor Swifts „Shake It Off“ gesehen und begeistert mitgewippt, unser Radio ist standardmäßig auf Radio Essen eingestellt und einer meiner häufigsten Sätze in Facebookdiskussionen über C-Promis ist „Ich guck halt jeden Scheiß!“

Shoppingcenter öffentlich doof finden ist mir zu einfach. Doof finden kann jeder. Es ist allgemein bekannt, dass die Erfindung des Shoppingcenters nicht die Sternstunde der menschlichen Geschichte darstellt, ebenso würde auch keine Fast-Food-Kette von sich behaupten, nachhaltige und kulinarisch ausgefeilte Kost anzubieten. Die Shopping-Center-Doof-Finder der heutigen Zeit sind die Angeber-Doof-Finder aus den Freundebüchern. Da steckt mir einfach zu wenig Fantasie hinter. Die liebsten Exemplare sind mir die, bei denen ein Besuch in gesellschaftlich geächteten Lokalitäten auch direkt physische Schmerzen herbeiruft. Im Shoppingcenter bekommt man Kopfschmerzen wegen der schlechten Luft und der miesen Akustik, von einem Burger von McDonald’s gibt’s direkt Bauchschmerzen, weil der sensible Magen, der seit Jahren nur noch hausgemachte Kuchen mit Obst aus Region bekommt, so was nicht mehr gewöhnt ist. Ja. Genau.

Frau Herzbruch hat in einem ganz anderen Zusammenhang mal was Schönes gesagt, da ging es ums Fernsehen bei Kindern, aber ich glaube, man kann das in leicht abgewandelter Form auf fast alles im Leben anwenden: „was schadet ist das fehlen der dinge, die das fernsehen ersetzt“. (Man darf an dieser Stelle das Wort „Fernsehen“ durch irgendwas anderes vermeintlich Doofes oder Doofmachendes ersetzen.)

Man kann prima in Shoppingcentern einkaufen, überteuerte zuckerhaltige Kaffeegetränke mit seltsamen Namen kaufen, im Auto Dudelfunk mit Nullmusik (Nullmusik ist mein Name für Musik, die so belanglos ist, dass man sie noch nicht mal wirklich wahrnimmt. Die Rotation bei WDR 2 besteht geschätzt zu 85 Prozent aus Nullmusik.) hören und abends eine belanglose Show mit mittellustigen Promis auf einem beliebigen Privatsender gucken und trotzdem am nächsten (oder sogar am gleichen!) Tag geile hausgemachte Marmelade aufs Brötchen vom Biobäcker schmieren, während man einen spannenden Podcast zu einem wichtigen aktuellen Thema hört, abends noch ein tolles Buch liest und sich für den nächsten Tag die Dokumentation über eine italienische Familie, die in einem Bergdorf in der fünften Generation Nudeln komplett in mühevoller Handarbeit herstellt notiert. In einem Moleskine. Mit E hintendran.

Ich habe noch nie verstanden, warum das eine das andere ausschließen muss. Das erschließt sich mir nicht. Mein Bloguntertitel steht ja auch nicht umsonst da oben. Und deswegen finde ich Dooffinden von weitgehend irrelevanten Aspekten des Alltags auch eher doof. Es führt zu nix, außer, dass man einmal mehr demonstriert hat, dass man weiß, was man aktuell doof zu finden hat. Wer Shoppingcenter doof findet, braucht ja keines zu betreten. Im Gegensatz zu Leuten übrigens, die Krieg doof finden, die müssen dann nämlich manchmal aus ihrem eigenen Land fliehen. Das Dooffinden von Shoppingcentern macht einen nicht zu einem besseren Menschen, auch nicht zu einem klügeren, ethisch korrekteren oder gar schöneren. Es macht einen noch nicht mal zu einem interessanteren oder individuelleren Menschen, weil es ja nun wirklich genug Menschen gibt, die Shoppingcenter doof finden. Man ist einfach ein Mensch, der Shoppingcenter doof findet. Ob man sich aber über das Dooffinden von Banalitäten identifizieren möchte, muss dann wahrscheinlich jeder selbst wissen.

Dooffinden ist auch immer ein aus- und abgrenzender Akt. Klar, man erntet auch immer schöne Kommentare wie „Genau!“ und „Stimmt. Total doof, hab ich auch schon immer gesagt!“, aber wer Ding A doof findet und das mitteilt, tritt damit auch den Leuten unangenehm auf die Füße, die Ding A vielleicht gar nicht so schlimm oder gar ganz okay finden und nun verschämt auf den Boden schauen und sich ob ihrer zweifelhaften Situation nichts mehr zu sagen trauen. Im Gegensatz dazu ist Tollfinden ja eher inklusiv gedacht. Das Tollfinden von Ding B bewirkt im besten Fall, dass jemand, der Ding B noch nicht kannte, sich jetzt auch dafür interessiert.

Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Nazis darf man zum Beispiel immer doof finden, und sollte das auch gerne überall äußern, das befürworte ich sehr. Genauso ist das Tollfinden von Kinderarbeit nicht ohne Protest hinzunehmen. Aber in den meisten anderen Bereichen bin ich doch sehr dafür, weniger doof zu finden und viel mehr toll zu finden. Denn, um es mit Frau Herzbruch zu sagen: „Was schadet sind nicht die doofen Dinge, sondern das Tolle, das von den doofen Dingen ersetzt wird.“

Linguistische Gewürzverwirrung

Da ich unangemessen viele Kochzeitschriften besitze und zwar nicht nur deutsche, sondern auch französische und englisch und ja, tatsächlich auch niederländische, habe ich erstaunliche Kenntnisse, was die französischen, englischen (und niederländischen) Wörter für gastronomische Begriffe, allen voran eben Zutaten sind.

Neulich saßen wir in einem Restaurant in Bayonne und der Fisch des Tages wurde als „espadon“ angekündigt, woraufhin mein Mann sein wandelndes Lexikon fragte, was das denn sein könnte.

„Ich möchte Schwertfisch sagen“, antwortete ich. „Aber ich habe wirklich keine Ahnung, wo dieses Wissen herkommt.“

(Es ist übrigens wirklich Schwertfisch und ich weiß immer noch nicht, warum ich das weiß.)

Jedenfalls saßen wir in Bayonne und ich hatte als Beilage zu den Jakobsmuscheln mit eingelegten Zitronen ein Püree (puree) aus Kartoffeln (pommes de terre) und Kürbis (potimarron), auf dem Schnittlauch obendrauf lag.

Bayonne 02/09/2015

Ciboulette, sprang es in mein Hirn, und ich weiß nicht, warum ich an das französische Wort für Schnittlauch denken musste, aber da war es eben. Ciboulette, ein sehr schönes Wort eigentlich.

Daraufhin teilte ich meinem Mann nicht nur mit, dass Schnittlauch ciboulette heißen würde und ich auch nicht wüsste, warum ich gerade jetzt daran denken müsste, außer eben, weil da ciboulette auf meinem Püree wäre und dass ich außerdem lange von dem Wort aneth  verwirrt gewesen wäre, weil ich natürlich immer gedacht hätte, das würde Anis bedeuten, in Wahrheit ist der französische aneth aber der deutsche Dill und das wäre so dermaßen überhaupt nicht naheliegend, dass ich auch jetzt immer wieder irritiert wäre.

Noch viel irritierender fand ich aber, dass mir das englische Wort für Dill nicht einfallen wollte. Schnittlauch, klar, ist chives, aber was ist nur Dill? Ich habe diesen Gedankenfaden irgendwann verloren, aber heute morgen ist er wieder in mein Hirn geploppt und seitdem weiß ich es auch wieder.

Dill, meine Damen und Herren, heißt auf Englisch natürlich dill. Da hätte man auch gleich drauf kommen können.

Einkaufen III

Wo hier gerade die großen Konsumwochen im Blog sind, hätte ich da noch eine Geschichte. So haben wir ja beim letzten Umzug vor viereinhalb Jahren unsere Waschmaschine geringstbietend verkauft. Wo genau die Waschmaschine herkam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, irgendwie wurde sie zum Einzug in Leverkusen von meinen Eltern gestiftet und begleitete uns bis nach Düsseldorf. In Essen hatten wir dann keinen Platz für eine Waschmaschine in der Wohnung und das Konstrukt im Keller war zwar clever ausgedacht, führte aber dazu, dass wir da auch keine Waschmaschine hinstellen konnten.

Im Keller sind nämlich mehrere Wasseranschlüsse, aber nur ein Stromanschluss, der mit einem Münzgerät verbunden ist. Für 50 Cent kann man da 45 Minuten Strom zum Waschen kaufen. Aus historischen Gründen stand dort die Waschmaschine von Herrn H., seines Zeichens Student und Mieter im zweiten Stock. Ein neuer Plan hätte so ausgesehen, dass sich alle interessierten Eigentümer zusammen eine Waschmaschine kaufen und Herrn H. sein Waschmaschinengewohnheitsrecht entziehen. Dazu kam es aber aus Prokrastinationstechnischen Gründen und allgemeinem mangelnden Interesse der betroffenen Parteien nie.

Fast vier Jahre lief ich deswegen mindestens alle zwei Wochen zum 500 Meter entfernten Waschsalon und erlebte dort erstmals den Charme eines mittelgroßen Waschsalons. Tatsächlich finde ich die Alternative Waschsalon gar nicht so schlecht, sie geht nur ins Geld und kostet Zeit und Aufmerksamkeit, weil man ja, selbst wenn man wie ich, zwischendurch nach Hause laufen konnte, immer aufpassen muss, rechtzeitig wieder da zu sein, um die Wäsche rauszuholen, damit es kein anderer für einen macht. Andererseits hat es etwas sehr verbindendes, man sieht sehr viele Menschen aus dem Stadtteil. Der Waschsalon als moderner Brunnen, wo man sich trifft, um zu waschen und zu tratschen. Das könnte man auch mal erforschen.

Bei der letzten Eigentümerversammlung sprach ich aus anderen Gründen die Waschmaschinensituation an und erfuhr, dass Herr H. die Benutzung seiner Waschmaschine freigegeben hatte, zumindest solange die Waschmaschine noch funktionierte und er dort wohnte. Seit knapp einem Jahr wasche ich nun also im Keller mit der Waschmaschine von Herrn H. und sammle 50-Cent-Stücke, um Strom zu kaufen. Nun zieht Herr H. aus. Und da wir ja mittlerweile auch in einer größeren Wohnung wohnen und dort Platz für eine Waschmaschine haben, war das nun der letzte Grund, den wir brauchten, um eine Waschmaschine zu kaufen.

Genau genommen waren wir schon anderthalb mal eine Waschmaschine kaufen, leider erfolglos. Beim ersten Mal fiel uns auf, dass man ja schon mal genau die Lücke ausmessen müsste, in die die Waschmaschine später sollte, vor allem in der Höhe. Das hatten wir aber nicht und zogen erfolglos ab. Beim zweiten Mal saßen wir schon im Auto mit dem festen Willen, jetzt noch schnell eine Waschmaschine kaufen, bis uns auffiel, dass wir immer noch nichts ausgemessen hatten. Dementsprechend brachen wir das Vorhaben ab, bevor wir einen Schritt in den Elektrohandel gesetzt hatten.

Vorletzten Samstag aber waren wir vorbereitet. Die Lücke war ausgemessen, ich hatte mich schon vor Monaten auf Twitter informiert und daraus zwei wesentliche Informationen gezogen: KAUFT EINE MIELE! und NEHMT EINE MIT TIMER! Es gab auch Miele-Gegenstimmen, es gab aber auch andere Gründe, die mich von einer Miele überzeugten, unter anderem meine Aversion gegen Auswahl. Ich möchte bei solchen Dingen so wenig Auswahl wie möglich haben, das verwirrt mich nur. Wenn man sich schon mal auf eine Marke festlegt, wird die Auswahl gleich sehr viel geringer und mein Gehirn muss dann doch nicht explodieren. Das ist positiv.

Das Verkaufsgespräch ist hier so minder interessant. Am Ende kauften wir die teuerste. Das kommt davon, wenn man seinen Mann mitnimmt. Oder zumindest, wenn man meinen Mann mitnimmt. Er entwickelte ein ungeahntes Interesse für den ganzen Funktionsscheiß und war dann überraschend von einem Feature überzeugt, das mir eher so mittelwichtig bis verzichtbar vorkam, während ich von einem anderern Feature überzeugt war und die einzige Maschine, die beides hatte, war dann selbstverständlich die teuerste. Außerdem lebe ich ja mit einem audiophilen Menschen zusammen, der nicht nur den Energieverbrauch sorgfältig prüft, sondern eben auch die Lautstärke. Sagen wir mal so: Dass der Verkäufer im Sonderprogramm noch die Option „Extra leise“ zeigte, hat nicht geholfen.

Ich bin ja sehr gegen Genderklischees. Der Satz „Männer/Frauen sind halt so!“ zaubert mir jedes Mal eine Schaudergänsehaut. Ich möchte das nicht hören. Ich habe aber nun beobachtet, dass man, wenn man mit meinem Mann irgendwelche Geräte kaufen geht, immer automatisch bei dem teuersten landet, das dafür aber immerhin ALLES KANN!

Auf der anderen Seite musste ich in Düsseldorf immer den Müll runterbringen, weil mein Mann den Keller fies fand. Irgendwann musste ich auch mal nachts im strömendem Regen eine über den Tag komplett zerfledderte tote Taube von der Dachterrasse klauben. Man muss sich das so vorstellen: Ich hocke von Flutlicht umleuchtet mit einem Regenschirm auf einer Dachterrasse und sammele kleine Vogelstücke von der Terrasse. Es war ein bisschen wie in einem Fernsehkrimi. Mein Mann putzt zum Ausgleich und hat drei mal so viele Parfums wie ich. Wir bemühen uns also, nicht in irgendeine Genderstereotypfalle zu tappen und es klappt ganz hervorragend. Nur beim Elektrogerätekauf nicht.

Das Positive ist aber natürlich jetzt: Wir kriegen die allerbeste Waschmaschine. Heute nach Hause geliefert und angeschlossen. Ab heute Abend wird gewaschen. DIE GANZE NACHT! Die Nachbarn werden staunen. Wer weiß, eventuell sagen wir den Urlaub ab, weil wir lieber zu Hause sitzen und Dinge waschen. Alles ist möglich!