Schullektüre

Gestern dachte ich über Schullektüre nach, also über all die Bücher, die ich während meiner Schulzeit lesen musste oder durfte, je nach dem, wie man’s sieht. Anstoß war eine Diskussion über Marlen Haushofers Die Wand und das Wort „Schulpflichtlektüre“, dass ich sofort anzweifelte.

Ich hatte immer das Gefühl, dass es zwar einen Schullektürekanon gibt, die Lehrer aber einigermaßen freie Hand hatten, was die konkrete Auswahl des zu lesenden Buches anging. Es musste halt je nach Stufe und Lehrplan eine bestimmte Epoche oder eine bestimmte Gattung sein, aber darüber hinaus schien es keine zwingenden Vorgaben zu geben.

Wie ich jetzt weiß, ist das nicht komplett richtig. Mindestens mit der Einführung des Zentralabiturs gibt es zum Beispiel für NRW Pflichtlektüren für die Oberstufe, in den letzten Jahren war das immer der Faust und irgendwas von Kafka. Aber damals(TM) gab es ja kein Pflichtabitur. Allerdings habe ich als Schülerin auch nie ernsthaft hinterfragt, warum wir jetzt lesen, was wir lesen und ob es in irgendeinem Lehrplan steht oder der Lehrer oder die Lehrerin halt einfach dieses Buch bestimmt hat. Wenn es da noch weitere Informationen gibt, bin ich sehr dankbar.

Eine kleine Twitterumfrage ergab zumindest, dass selbst jemand, der an der gleichen Schule war wie ich, allerdings ein paar Jahre später und sogar teilweise die gleichen Lehrer hatte, vollkommen andere Bücher gelesen hat. Dementsprechend vermute ich immer noch, dass es sowas wie „Pflichtlektüre“ nur in sehr geringem Maße gibt und das meiste in der Hand des einzelnen Lehrers liegt. Davon auszugehen, dass ein Buch allgemein bekannt ist, nur weil man selber es in der Schule gelesen hat, kann also ein Irrweg sein. Ich bin zum Beispiel komplett um Goethe herumgekommen und wäre ich nicht in einer gescheiterten Theater-AG gewesen, hätte ich – zumindest in der Schule – nichts von Schiller gelesen.

Eine vollständige Liste kann ich nicht versprechen, da mir sicherlich Bücher entfallen sind, die ich im Laufe von 9 Jahren Gymnasium im Rahmen irgendeines Unterrichts gelesen habe, aber an die meisten kann ich mich immerhin noch erinnern.

Deutsch

In der Unterstufe gab es Pole PoppenspälerDer Schimmelreiter und Der kaukasiche Kreidekreis. An alle drei habe ich nur vage Erinnerungen, gerade ersteres empfand ich als eher anstrengend und wenig erbaulich. Brecht war da noch am ehesten zugänglich, wobei die gesamte Klasse in einer Arbeit über Brecht versagte, weil niemand seinen Sarkasmus verstand und wir alle komplett zu dem Schluss kamen, Brecht hätte Kirche geil gefunden. Tja.

In der Mittelstufe gab es dann Das Schiff EsperanzaDas Parfum und Draußen vor der Tür und Homo Faber. Das Parfum war eine willkommene Abwechslung, endlich mal was ordentliches, was richtig erwachsenes. Draußen vor der Tür haben wir kollektiv gehasst. In der Unterstufe ist man ja noch etwas zu klein zum aktiven Hassen von Literatur, in der neunten Klasse hingegen ist man genau im richtigen Alter. Auch Homo Faber mochte ich eigentlich ganz gerne, während meine Cousine sich sehr ausgiebig über dieses Buch beschwerte.

In der Oberstufe kann ich mich nur noch an Effi Briest und an Das Spiel ist aus erinnern. Effi Briest war das einzige Buch, das ich nicht zu Ende gelesen habe (und trotzdem eine Zwei in der Klassenarbeit), weil ich es unfassbar lang und ebenso langweilig fand. Das Spiel ist aus lasen wir im Literaturkurs. Der Plan war eigentlich, das Buch als Theaterstück aufzuführen. Das scheiterte an mehreren Dingen. Zum einen mussten alle Nebendarsteller drei bis fünf Rollen übernehmen, das Bühnenbild gab Rätsel auf, aber im Nachhinein erfuhr ich, dass es vor allem daran scheiterte, dass der Hauptdarsteller die Hauptdarstellerin nicht küssen wollte.

Das kann allerdings noch nicht alles sein, und vage in meinem Hinterkopf tummeln sich noch Jakob der Lügner und Die Verwandlung. Vermutlich haben wir die auch irgendwann gelesen.

Englisch

Bei Englisch erinnere ich mich nur an sehr weniger Bücher, ich kann mir aber kaum vorstellen, dass das alles gewesen sein soll. Allerdings fängt man da ja auch später mit dem Lesen ganzer Bücher an, insofern mag es stimmen.

Im Gedächtnis geblieben sind An Inspector CallsEducating RitaDeath of a Salesman und Animal Farm. Wobei ich die letzten beiden tatsächlich sehr mochte und an die anderen beiden zumindest keine negativen Erinnerungen habe.

Französisch

Französisch hatte ich später als Leistungskurs, was auch die erstaunlich lange Liste der Schullektüren erklärt. All meine bittere Ablehnung gegenüber dem Zentralabitur entstammt auch vor allem diesem Kurs, weil ich hier am deutlichsten erlebt habe, wie es ist, wenn sich ein Lehrer auf die Schüler einstellt und eben nicht einfach das Standardprogramm durchzieht.

In Französisch also (meines Wissens alles in der Oberstufe): Lucien Lacombe, La guerre de troie n’aura pas lieu, Les petits enfants du siécle, Rhinocéros und Les Précieuses ridicules. An keines der Bücher habe ich eine schlechte Erinnerung, ich fand sie alle auf ihre Art gut. Besonders hängengeblieben ist aber Les petits enfants du siécle, das war ja fast schon feministische Literatur und – OBACHT! – von einer Frau geschrieben!

 

Womit wir beim letzten Punkt angekommen wären: Die Frauenquote. Wenn ich alle Bücher zusammenzähle, die ich in diesen drei Fächern gelesen habe (und an die ich mich erinnern kann), komme ich auf 19 Autoren und 1 Autorin. Das ist nicht nur eine schlechte Quote, das ist auch scheiße, wenn es um die Vermittlung von Diversität in der Kultur geht. In der Schule lernt man – oder zumindest: lernte ich – implizit: Relevante Literatur wird von Männern geschrieben. Dass es danach auch bei grundsätzlich Literaturaffinen jungen Menschen etwas dauern kann, bis sie entdecken, dass es auch viele Frauen im Literaturbetrieb gibt, die auch großartige Bücher schreiben, ist wenig verwunderlich. Heute sieht meine Quote Gott sei Dank besser aus, aber leider muss man sagen, dass ich mir das Wissen um gute Autorinnen selbst aneignen musste. Hier hat die Schule auf ganzer Linie versagt.

Ansonsten scheint mir die Auswahl eigentlich ganz gut durchmischt. Nicht alles fand ich damals gut. Ich vermute auch, dass ich Draußen vor der Tür heute sogar mögen würde, vielleicht lese ich das einfach irgendwann noch mal. Dass mir Goethe, Schiller, Shakespeare und Konsorten vorenthalten wurden, habe ich gut überlebt. Ich habe heute auch nur eine sehr grobe Vorstellung davon, was im Faust passiert, aber na ja. Vielleicht lese ich mir gleich die Inhaltszusammenfassung in der Wikipedia durch. Das muss reichen.

12 Antworten auf „Schullektüre“

  1. Interessant. Wir hatten viel Faust — das fing schon in der fünften Klasse „age appropriate“ in Form eines Puppenspiels (ich durfte den Faust geben, weil sich sonst keiner den ganzen Text merken konnte) an und kam dann später wieder.

    Ansonsten DDR-Klassiker wie „Timur und sein Trupp“ und „Nackt unter Wölfen“. In den höheren Klassen durften wir öfter mal abstimmen — ich weiß noch, dass sich einmal „Wallenstein“ durchsetzte, aber nicht mehr, wogegen.

    In Französisch fingen wir mit dem Kleinen Prinzen an, und später konnte ich leider nie jemanden von Zola überzeugen. Was wir in Russisch und Englisch gelesen haben, ist komplett weg. Hat aber nicht viel zu sagen, denn ich weiß, dass ich in der Deutsch-Abschlussprüfung in der 10. Klasse (danach machte man dann entweder eine Berufsausbildung oder ging weiter zum Abitur) etwas zur „Hamlet-Rezeption in Deutschland in verschiedenen Epochen“ geschrieben habe, habe aber keinerlei Erinnerung daran, dass wir Hamlet gelesen hätten …

    1. Dank hafensonnes Kommentar fällt’s mir ein: Buddenbrooks in der siebten Klasse (wie konnte ich das vergessen). Das ganze Drama um Tony und ihre Männer war perfekt in dem Alter. Wir Mädels wären natürlich alle mit Morten durchgebrannt (dass der genauso hieß wie der schöne Sänder von a-ha schadete natürlich nicht). Na ja, und diese ganze Standesgeschichte bot sich natürlich für eine „im Sozialismus gibt es sowas nicht“-Lektion an.:)

  2. Stimmt, den Faust hatten wir im LK auch – hatte ich bei meiner Bemerkung auf Twitter vergessen. Wesentlich besser als ganze Bücher zu lesen, fand ich bei unserem etwas schwierigen Lehrer in der 11. Klasse den Schnelldruchritt durch die deutsche Literaturgeschichte – das „Atta unsar“ kann ich heut noch zu 3/4 auswendig, über Luthers Übersetzungstätigkeit und -marotten haben wir nachgedacht und Barockgedichte interpretiert (1. Halbjahr) – mir hat das Spaß gemacht. Ansonsten ging es mir mit dem Lesen in derSchule immer zu langsam – bis wir so ein Buch bearbeitet hatten, hatte ich schon vergessen. was drin stand, weil ich einiges zwischendurch gelesen habe … (deshalb wohl auch so bruchstückhafte Erinnerungen).

  3. https://kultusministerium.hessen.de/sites/default/files/media/hkm/la17-abiturerlass_leselisten.pdf

    Das ist die verbindliche Vorgabe für Hessen, das gibts aber anderswo genau so.

    Ich arbeite in Georg Büchners Geburtshaus, dem Museum Büchnerhaus, und habe spürbaren Schülergruppenandrang wegen der Pflichtlektüre; insofern sehe ich es gern, wenn Büchner da drauf steht. Allerdings bemühe ich mich immer besonders, den Schüler*innen beizubiegen, dass Büchners Texte TROTZ des Pflichtkanons lesenswert sind …

    1. Dann ist das entweder für andere Bundesländer sehr gut versteckt oder es gibt nicht für jedes Bundesland eine entsprechende Liste. Für NRW finde ich im Lehrplan für Deutsch keine konkreten Literaturhinweise, lediglich die entsprechenden Bücher (Faust und Kafka), die fürs Zentralabi relevant sind.

  4. ich habe selbst kurz eine Liste gemacht, hier: https://stefanmesch.wordpress.com/2017/08/11/schullekturen-gelesen-im-unterricht-empfehlungen-debatte/

    (vor-)gelesen, in der Grundschule:

    Roald Dahl: “Sophiechen und der Riese”
    Gudrun Mebs: “Oma, schreit der Frieder”
    Christine Nöstlinger: “Der neue Pinocchio”
    Erwin Moser: “Katzenkönig Mauzenberger”
    A.S. Neill: “Die grüne Wolke”
    Heinrich Maria Denneborg: “Das Eselchen Grisella”
    Paul Maar: “Eine Woche voller Samstage”
    Michael Ende: “Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch”
    Knister: “Die Reiter des eisernen Drachen”
    Steve Jackson, Ian Livingstone: “Der Hexenmeister vom flammenden Berg”
    .

    Unter- und Mittelstufe:

    Anne Frank: Tagebuch
    Thornton Wilder: “Unsere kleine Stadt”
    Theodor Storm: “Der Schimmelreiter”
    Hermann Hesse: “Unterm Rad”
    Friedrich Schiller: “Die Räuber“
    Friedrich Schiller: “Maria Stuart”
    Friedrich Schiller: “Wilhelm Tell”
    Ray Bradbury: “Fahrenheit 451”
    Willi Fährmann: “Es geschah im Nachbarhaus”
    Arnulf Zitelmann: “Unter Gauklern”
    Gudrun Pausewang: “Ich habe Hunger, ich habe Durst”
    Carl Taylor: “Merlin’s Magnificent Magic Shop”
    John Grisham: “The Firm” [Kurzversion für Englisch-Anfänger]
    in Latein lasen wir einen ca. halben “Asterix”-Band, in Französisch Teile von “Le Petit Prince”
    Otfried Preußler: “Krabat” [stand für Klasse 6 zur Diskussion, las ich dann aber doch nur privat.]
    Ralf Isau: “Die Träume des Jonathan Jabbok” [keine Lektüre: nur eine Lesung, in Stuttgart.]
    Sally Perel: “Ich war Hitlerjunge Salmonon” [keine Lektüre; nur Lesung an der Schule.]
    Tamora Pierce: “Alanna” [alle 4 Bände; keine Lektüre: ein Klassenkamerad hielt ein Referat in Deutsch.]
    Stanislaw Lem: “Solaris” [keine Lektüre; lieh mir mein Deutschlehrer in Klasse 9, weil ich SciFi mochte.]
    Morton Rhue: “Die Welle” [keine Lektüre; Freund F. las es in seiner Klasse und ich lieh es aus.]
    .

    Theater-AG:

    Berthold Brecht: “Die Kleinbürgerhochzeit”
    William Shakespeare: “Wie es euch gefällt”
    Jean Giraudoux: “Kein Krieg in Troja”
    Aristophanes: “Die Vögel”
    William Shakespeare: “Romeo & Julia”
    Ulrich Becher: “Der Bockerer”
    .

    Oberstufe & Abitur:

    Max Frisch: “Homo Faber”
    Heinrich von Kleist: “Die Marquise von O”
    Franz Kafka: “Die Verwandlung”
    Zoe Jenny: “Das Blütenstaubzimmer”
    Johann Wolfgang von Goethe: “Faust”
    Alfred Döblin: “Berlin Alexanderplatz”
    Georg Büchner: “Leonce und Lena”
    Uwe Timm: “Die Entdeckung der Currywurst”
    John Dos Passos: “Manhattan Transfer” [keine Pflichtlektüre: für Referat gelesen.]
    Albert Camus: “Der Mythos des Sysiphos” [keine Pflichtlektüre: für Referat gelesen.]
    .

    Englisch-LK:

    William Shakespeare: “Hamlet”
    Paul Auster: “Moon Palace”
    Tom Wolfe: “Bonfire of the Vanities” [keine Pflichtlektüre: für Referat gelesen.]

  5. Ich habe die größten Teile meiner Schulzeit in Hessen verbracht, allerdings noch vor dem Zentralabitur, und hatte Deutsch/Englisch-LK. Erinnere mich an:

    Deutsch
    – Biedermann und die Brandstifter
    – Die Verwandlung
    – Faust I und II (komplett!)
    – Der Vorleser
    – Don Juan oder die Liebe zur Geometrie
    – Der Verbrecher aus verlorener Ehre
    – Don Carlos
    – Prinz Friedrich von Homburg
    – Die Marquise von O.

    Englisch
    – An Inspector Calls
    – Death of a Salesman
    – All My Sons
    – Brave New World
    – Lord of the Flies
    – Macbeth
    – Lies of Silence
    – The Time Machine (für einen Book Report)

    Französisch
    – Huis Clos
    – Les jeux sont faits
    – irgendwas kurzes von Zola

    Weibliche Autoren: 0,0. Erschreckend. Zumal ich in allen drei Fächern vorwiegend Lehrerinnen hatte.

    „Draußen vor der Tür“ habe ich vor einiger Zeit im Theater gesehen und fand es ganz gut.

    1. Und weil ich Stefans Beitrag gelesen habe, fiel mir doch noch etwas aus der Unterstufe ein: „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (Judith Kerr). Doch eine Frau.

  6. So detaillierte Erinnerungen kann ich leider nicht anbieten. Ich erinnere mich aber genau, dass es mich unglaublich geärgert hat, dass von den Vielschreibern immer ausgerechnet das ödeste und langweiligste Buch gelesen wurde. Der Verwandlung konnte ich beispielsweise so gar nichts abgewinnen, dabei habe ich in genau der Zeit, als wir sie lesen durften, beinahe alles andere von Kafka gelesen. Tod in Venedig – viel zu maniriert, da gibt es schöneres von Thomas Mann. Vom Untertan möchte ich gar nicht erst anfangen, unglaublich bemüht und vor Metaphern strotzend.

    Ich erinnere mich aber auf jeden Fall daran, dass damals (ca. 20 Jahre) in den Berliner Schulen keineswegs alle dasselbe gelesen haben, ich meine, die Lektüre war hauptsächlich lehrerabhängig. Und ich meine, dass auch mindestens einmal abgestimmt wirde, was gelesen werden soll.

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