Was Marie Kondo mit Softwareentwicklung und Faulheit zu tun hat

Die gute Marie Kondo, deren Buch ich ja im letzten Jahr las und die meine Aufräumpläne doch hilfreich anstoßen und unterstützen konnte, hat jetzt eine Serie auf Netflix und deswegen dreht Twitter gerade wieder etwas frei. Die einen, weil sie jetzt aufräumen, die anderen, weil sie genervt sind von denen, die aufräumen. Und dann noch die, die genervt sind, von denen, die genervt sind von denen, die aufräumen. Es ist wie immer kompliziert.

Was zunächst auffällt, ist die offensichtliche Ahnungslosigkeit der Kondo-Kritiker in Bezug auf das, was tatsächlich in den Büchern und der Serie erzählt und vorgeschlagen wird. Es ist sehr anstrengend, wenn Marie Kondo und Minimalismus in dieselbe Kiste geworfen werden, obwohl das eine mit dem anderen gar nichts zu tun hat.

Interessant finde ich aber vor allem, dass Sinn und Zweck der Übung teilweise radikal missverstanden oder zumindest zu eigenen Kritikzwecken verdreht wird und unter den Verdacht der „Selbstoptimierung“ gestellt wird. In der ze.tt wird Marie Kondo als der natürliche Feind der Faulheit dargestellt. Dieser Eindruck ist nicht grundsätzlich falsch. Bei Kondo geht es sogar explizit darum, sich vorzustellen, wie das ideale Leben aussehen könnte und seine Umgebung dahingehend aufzuräumen. Es ist aber auch nicht richtig.

Man kann das ganz schön mit einem Vergleich aus der Softwareentwicklung erklären. In der Softwareentwicklung gibt es das Prinzip der technical debt. Damit meint man die ganze Schuld, die man im Laufe des Entwicklungsprozesses anhäuft, weil man an der einen Ecke geschludert hat, an der anderen Ecke etwas aus Zeit- oder Bequemlichkeitsgründen anders gemacht hat, an der nächsten einen fiesen Hack dringelassen hat, weil er nun mal funktioniert und man gerade keine Zeit oder Lust hatte, es besser zu machen und so weiter. Am Ende funktioniert zwar alles irgendwie, aber sobald man an den Code muss, dauert es zwei bis fünf Mal so lange, ein neues Feature einzubauen oder einen Bug zu beheben, weil alles unordentlich ist, man erst verstehen muss, wie der Code eigentlich funktioniert und weil es auch keine funktionierenden automatischen Tests gibt, hat man an einer anderen Stelle einen Fehler eingebaut, der erst zwei Wochen später auffällt und den sich niemand erklären kann.

Die offensichtliche Lösung ist, hier von Anfang an sauber zu programmieren. Wenn das nicht passiert ist, dann kann man entweder weiter rumfrickeln und neue technische Schuld ansammeln oder man setzt sich einmal hin und baut mit viel Mühe, Tränen, Schweiß und unter Verwendung vieler bunter Schimpfwörter das Programm so um, dass die Verfahren sauber dokumentiert und einheitlich ist, die einzelnen Dateien ordentlich benannt sind und alles da ist, wo man es vermuten würde. Beim nächsten Bug oder neuen Feature, weiß man dann deutlich schneller, wo man nachgucken muss, wie und wo man eine neue Datei anlegt, wie sie heißen muss und mit welchen Programmiermustern man arbeiten muss.

Wenn man sich jetzt seine Wohnung oder sein Haus wie ein Programm vorstellt, dann wird klar, dass es tatsächlich sinnvoller ist, wenn die Kerzen nicht sowohl in der Sideboardschublade und im Schrank sind, sondern nur an einem Platz, denn wenn man jetzt Kerzen sucht, dann muss man nicht an zwei Orten gucken, sondern nur an einem und man muss sowieso gar nicht mehr suchen, weil man ja weiß, wo sie sind.

Abgesehen von den Leuten, die es von Anfang an richtig machen, ist es wahrscheinlich, dass wir ähnlich wie die Softwareentwickler bei ihrem Programm im Laufe der Jahre ganz viel Aufräumschuld auf uns geladen haben.  Schuld ist hier nicht im Sinne eines moralischen Fehltrittes zu sehen, sondern als eine Menge kleiner und großer Nachlässigkeiten, die sich zu einem unübersichtlichen Haufen angesammelt haben.  Das heißt nicht zwingend, dass die Wohnung aussieht wie ein Messiehaushalt oder man überhaupt nichts mehr wiederfindet, sondern nur, dass man oft nicht genau weiß, wo was ist und dann eben an drei Stellen suchen muss und dann etwas neu kauft, weil man nicht auf die Idee kommt, noch an der vierten Stelle zu suchen, wo es gewesen wäre. Wir besitzen aus diesem Grund übrigens zwei Christbaumständer und es ist mir immer latent peinlich, dass wir zwei Christbaumständer besitzen, obwohl wir wirklich nie zwei Christbäume haben, einfach weil wir den ersten nicht mehr gefunden haben.

Was in der Softwareentwicklung Refactoring heißt, also der teilweise sehr zeitraubende und aufwändige Prozess, Programme so umzubauen, dass sie sauberer, schöner und leichter wartbar sind, ohne dass man dabei die Funktionalität verändert, ist ein bisschen das, was man mit Marie Kondo für die eigene Wohnung macht. Man guckt sich einfach alles einmal an, wirft das raus, was man definitiv nicht mehr braucht und sortiert das, was man behalten will, so, dass man sicher weiß, wo es ist und es auch sofort findet, wenn man es sucht. Außerdem sorgt man dafür, dass alles, was man besitzt so sortiert ist, dass man schnell sehen kann, was man hat. Wenn man das einmal gemacht hat – und das gilt sowohl fürs Programmieren als auch fürs Aufräumen – und sich dann ein bisschen zusammenreißt und keine neue Unordnung ins Haus (oder in den Programmcode) trägt, wird das Leben danach tatsächlich einfacher.

Dabei ist es eben auch sinnvoll, sich wirklich alles auf einmal anzugucken, um überhaupt entscheiden zu können, was man behalten will und was nicht und wie man es am besten wegsortiert. Beim Programmcode hilft es, wenn ich wirklich alle Funktionen beisammen habe, die das gleiche tun, damit ich entscheiden kann, welche davon ich behalten und wo sie am besten abgelegt ist, damit ich sie dann wiederfinde, wenn ich sie benutzen möchte. Eventuell stellt sich heraus, dass von den vier Funktionen drei exakt das gleiche tun und eine doch etwas anderes, dann behalte ich zwei oder baue die eine so um, dass sie beides kann. Wenn beim Aufräumen wirklich alle Klamotten auf einem Haufen liegen und ich auf einmal merke, dass ich überraschend gar nicht nur einen, sondern vier Wintermäntel habe, dann behalte ich vielleicht nur einen oder zwei, weil der eine wärmer ist und der andere eine Kapuze hat oder eben alle vier, weil mich Wintermäntel glücklich machen, denn sie sorgen dafür, dass ich nicht friere. Hauptsache ist, ich weiß nachher, wo sie sind und dass ich mir nächsten November keinen neuen kaufen muss.

Es geht hier eben nur bedingt um Perfektion und vor allem geht es nicht um Perfektion um der Perfektion willen, sondern darum, Zeit sinnvoller zu verwenden als mit dem Suchen von Dingen. Jetzt kann es da draußen Leute geben, die gerne Sachen suchen und damit meine ich nicht dass Pippi-Langstrumpfeske Suchen von verlorenen Dingen auf schwedischen Landstraßen, sondern das Suchen eines Briefumschlags oder eines Teelichts oder des fucking Christbaumständers, von dem man weiß, dass ER HIER IRGENDWO SEIN MÜSSTE, GRMBLFX! Ich gehöre nicht dazu. Wenn wir uns eine Aktivitätsspaßskala von 0 bis 10 vorstellen, bei der 0 überhaupt keinen Spaß macht (Haare aus Abflüssen friemeln) und 10 sehr viel (betrunken Karaoke singen), dann befindet sich Sachensuchen auf einer soliden 4. Es ist nicht wirklich schlimm, ich würde es aber lassen, wenn ich könnte.

Suchen ist etwas, dass man selten freiwillig tut. In der Realität sucht man meistens etwas, weil man es braucht und nicht, weil man gerade so irre Bock auf Suchen hat. Braucht man etwas und findet es nicht, dann hat man meistens zwei Möglichkeiten: Entweder man wirft Zeit oder Geld auf das Problem und von beidem hat man selten zu viel. In der Softwareentwicklung sieht das ähnlich aus, man braucht doppelt so lange, um etwas einzubauen oder verbringt einen halben Tag damit, etwas zu programmieren, was schon längst da ist, nur dass hier – zumindest im professionellen Kontext – Zeit meistens gleichbedeutend mit Geld ist.

Marie Kondo ein Lob der Faulheit gegenüberzustellen, ist unfair und fachlich falsch. Das Ziel ist ja vielmehr, in Zukunft weniger Zeit mit aufräumen verbringen zu müssen. Wenn alles erst mal einen Platz hat, dann stellt man das Ding wieder dahin, wo es hingehört und ist fertig mit Aufräumen. Das gleiche gilt für aufgeräumten Programmcode. Ist erst mal alles an seinem Platz, dann kann ich das neue Feature schneller einbauen und den Bug schneller fixen, vor allem aber kann ich mich bei der Arbeit auf das konzentrieren, was Spaß macht oder verbringe zumindest nicht unnötig viel Zeit mit etwas, was mir keinen Spaß macht.

Es gibt vieles, was man an Kondo seltsam, überflüssig oder binsenweisheitisch finden kann, doch der Vorwurf des Perfektionismus ist falsch. Marie Kondo ist kein Angriff auf das Menschenrecht auf Faulheit, sondern für manche Menschen überhaupt erst der Weg dahin. Das Ziel ist nicht, zu einem  perfekten Menschen zu werde, der in einer makellosen Wohnung sitzt und ein eigenes Geschäftsimperium aufbaut, sondern, nervige Sachen nicht öfter als nötig tun zu müssen. Statt dessen kann man Dinge tun, die einem mehr Spaß machen. Zum Beispiel faul auf der Couch liegen und eine Serienstaffel bingen. In Schlumperhosen. Mit ungewaschenen Haaren. Marie doesn’t care.

7 Antworten auf „Was Marie Kondo mit Softwareentwicklung und Faulheit zu tun hat“

  1. Ich gehöre zu jenen, die es gerne sortiert haben und immer schon sehr gut wegwerfen konnten. Ich gehe meist alle paar Monate durch meine Wohnung (120 qm, 2 Personen) und entsorge oder sortiere um. Macht mir eher Spaß. Damit bin ich vermutlich selten. Ich kann gut nachvollziehen, dass es anderen anders geht und dass entsprechende Unterstützung hilfreich sein kann.

    Wenig nachvollziehbar finde ich den Habitus von Marie Kondo und ihre sehr selsame und spooky Art diese Unterstützung zu gewähren. Sie ist sicher ein sehr netter und sympathischer Mensch. In ihrer Außenwirkung auf mich (und zumindest ein paar andere, wie ich feststelle) wirkt sie wie eine bizarre Kreuzung aus Angela Merkel und Barbie. Also eine Mischung aus konservativ und kitschig. Das ganze gepaart mit einer sehr großen Portion Eso-Kitsch. Mich befremdet das, es stört mich allerdings nicht, weil es mit meinem Leben nichts zu tun hat. Ich beobachte mit einer Mischung aus Erstaunen, Irritation und Belustigung wie so viele bodenständig wirkende Menschen diesem Mega-Kitsch anheimfallen (nein, nicht dem Aufräumbedürfnis, das finde ich nachvollziehbar).

  2. An mir ging der Hype bisher vorüber – kleinere Meme-Ausfälle mal außen vor – aber nach diesem differenzierten Blogbeitrag habe ich Lust, mir mal eine Folge der Serie anzuschauen.
    Prinzipiell bin ich zwar sortiert, habe aber auch meine blinden Flecke (ausschließlich papierener Natur).
    Ich möchte viel lieber die neue Folge Discovery anschauen, als die Lohnsteuerbescheinigung suchen.

    Danke fürs Geraderücken!

    1. Ich fand das Buch etwas besser, weil da die Prinzipien klarer werden als in der Serie. Außerdem hat man in der Serie tatsächlich das Problem, dass eine sehr japanische Japanerin auf sehr amerikanische Amerikaner trifft und das dann zeitweise schon etwas befremdlich ist. Wenn man darüber hinwegsehen kann, dann ist das aber auch kein Problem.

  3. Vielen Dank für die Erläuterung, jetzt weiss ich endlich um was sich der ganze Trubel dreht.
    Außerdem starte ich mit guter Laune in den Tag… wegen des Sachensucher-Vergleichs und der Verwendung von GRMBLFX!

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