Ich habe beim letzten Elternbesuch ein paar Kisten mit alten Schulkram mit nach Hause geschleppt. Dieser Schulkram erweist sich jetzt als faszinierender Fundus voll mit Relikten einer deutschen Jugend in den Neunzigern. Unmengen bekritzeltes Papier, vieles davon natürlich reiner Schulkram, aber auch der erweist sich (aber dazu kommen wir ein ander Mal) als erstaunlich interessant. Es ist ein bisschen wie beim Techniktagebuch: Damals war das langweilig, aber jetzt, nach zwanzig Jahren!
Ein besonders schönes Relikt ist das Freundebuch. In der Grundschule waren die noch gekauft, später aber dann entdeckte man seine eigene Individualität, die sich natürlich in vorgedruckten Freundebüchern nicht mehr ausdrücken ließ und man dachte sich die Fragen selber aus. Dadurch wurde das Freundebuch zwar nicht spannender, aber immerhin schlechter zu handhaben. Man musste nämlich entweder alle Fragen mit Nummer auswendig lernen oder ständig hin- und herblättern.
Die erste Version des Fragenkatalogs war mit knapp 60 Fragen noch recht harmlos und las sich so.
Typische Mädchenfragen sind die Fragen 37 bis 40, Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen und/oder Namen. Ich bin mir nicht sicher, ob sich Jungen so viel Gedanken darüber gemacht haben, wie sie lieber heißen würden, ich dagegen hatte in fast jeder Lebensphase bis knapp vor der Volljährigkeit einen Namen, den ich lieber gehabt hätte. Meistens waren diese Namen länger, exotischer und irgendwie geheimnisvoller als, nun ja, Anne. Heute bin ich meinen Eltern sehr dankbar für ihre gute Wahl. Hätte ich auch gemacht.
Bemerkenswert ist auch Frage 42 in ihrer Spezifität. Was ist eigentlich so Ihr Lieblingsbezirk?
Teilweise zeigten sich allerdings die Ausfüller und Ausfüllerinnen etwas stur an und verweigerten die Aussage.
Wir befinden uns also in den Neunzigern, gestartet wurde das Freundebuch, das in Fachkreise auch Krümelbuch genannt wurde, im Frühjahr 1993, als ich in der siebten Klasse war.
Die Neunziger merkt man den Einträgen vor allem bei dem Teil an, bei dem Kreativität gefragt war und sich die Befragten austoben konnten.
Zu dieser Zeit angesagt waren: Sticker, Pferde, Smilys, Smily-Schriftzüge, lustige Sprüche und Stabilostifte. Wer die meisten Stabilostifte in den absurdesten Farben im Mäppchen hatte, der war schon mal nicht komplett uncool. So konnte selbst ansonsten sehr uncoole Menschen wie ich wenigstens irgendwie punkten.
Außerdem voll im Trend: Beverly Hills 90210 und äh… irgendeine Boyband vermutlich. Den neuen fünfstelligen Postleitzahlen sei Dank konnte man sich auch sein eigenes 90210-Logo basteln, dann eben mit dem eigenen Stadtteil. Wir teilten sogar den eigenen Klassenkameraden Rollen zu, die sich irgendwie an den Figuren des Originals orientierten.
Hier ein Beispiel dafür, wie man die Trendthemen 90210 und Sticker miteinander verknüpfen konnten. Von den Aufklebern finden sich noch andere in meinem Freundebuch, sie müssen in den Verpackungen irgendwelcher Schokoriegel gesteckt haben.
(Oben rechts steht übrigens: „Du bist ein Highlander“. Ich habe das mal für alle verwirrten Leser entziffert. Highlander war auch gerade hip.)
Beim Eintritt in die achte Klasse habe ich dem Freundebuch neue Fragen spendiert. Der Katalog wurde auf vier Seiten ausgeweitet, ab jetzt sind 77 Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten.
Die Fragen wurden insgesamt etwas aggressiver. „Wen möchtest du am liebsten killen?“ ersetzte „Mein ärgster Feind“. Dazu kommt „Diese Songs kommen mir aus den Ohren raus!“, „Hassmoderator“ (wir fanden alle Ulla Kock am Brink doof) und Hassgameshow. Punkt 75, „Lieblingsvideoclip“, muss eine Verzweiflungstat gewesen sein. Wir hatten zu Hause weder VIVA noch MTV, YouTube gab es noch nicht, so dass ich auf eine halbe Stunde „Hit Clip“ im WDR (moderiert von Thomas Germann) angewiesen war, um irgendwie halbwegs up to date zu sein. Ich war jetzt wohl in der Pubertät.
Bezeichnend für die Neunziger waren auch schlimme Poster mit Farbverlaufshintergrund und Delfinen, Pferden, Palmenstränden, küssenden Pärchen oder (offensichtlich) Hundewelpen.
Dafür war der Musikgeschmack jetzt noch wichtiger geworden, so dass besonders fleißige Ausfüller mit dem Aufzählen der Lieblingssongs mehr als eine Seite füllen konnten.
Zum zweiten Halbjahr des achten Schuljahrs wechselte ich die Schule und das Krümelbuch bekam noch mal neue Fragen spendiert (4 1/4 Seiten, 80 Fragen). Meines Wissens gibt es auch noch ein zweites Buch, in dem die Fragen altersgemäß noch individueller wurden. Das war aber in den mitgebrachten Kisten nicht zu finden.
Von außen sah es übrigens so aus. Was in den Neunziger Jahren sonst noch angesagt war: Diddl-Mäuse, Umweltpapier und Marmormuster. Wie die Irren marmorierten wir alles, was uns in die Finger kam. Die Papierindustrie erkannte den Trend und lieferte entsprechend ab.
Die Nostalgiereihe geht natürlich weiter. Wer sofort mehr haben will, der guckt bei Alexandra Tobor vorbei, die für ihren neuen Roman Minigolf Paradiso [Amazon-Werbelink] wieder Betreutes Lesen anbietet und dabei bis zu den Hüften in den Neunzigern watet.
Allerliebst! :-) Ich hatte so ein ähnliches Buch…über Musik konnte man sich so wunderbar von der Masse abgrenzen. Ich hab damals dank älterer Schwester Depeche Mode als Lieblingsband und als Hassband New Kids on the Block ( oder für Kenner NKOTB) mit paar bösen Bezeichnungen angegeben…. Was einen regelrechten Shitstorm in diversen Freundschaftsbüchern ausgelöst hat… Zum Glück gab es damals kein Internet!
O!M!G!!!!
Volltreffer zu 1000%. Weiß gerade nicht, ob ich wie irre lachen soll oder sentimental ein paar Tränchen vergieße. Genau so war das. Danke für die Erinnerung
Zehn Jahre früher haben zwei koreanische Mitschülerinnen ähnliche Bücher an meiner Schule eingeführt. Davor kannten wir nur Poesiealben.
Hieß das nicht Poesiealbum? Oder ist das etwas ganz anderes? Ich hatte sowas nicht, meine Schwester aber. Der beste Spruch darin war: „Arbeiten und beten, und für’s Brot den Teig kneten.“
Nein, ein Poesiealbum war etwas anderes. Das hatten wir in der Grundschule und man konnte schöne Sprüche reinschreiben und Glanzbilder einkleben, musste dafür aber nicht persönliche Fragen beantworten.
Göttlich! Schade, dass ich nie über die Ausfüllwörterbücher hinaus kam :D
Waaaah! Ich dachte damals tatsächlich, dass nur unsere Clique so ein „cooles“ Fragenbuch hatte. Waren wir also doch nicht so individuell wie gedacht. Mist.
Oh mein Gott, meine Jugend ist grad wieder an mir vorbeigezogen. Inklusive Hit Clip (Sie waren nicht die einzige, die keine vernünftigen Fernsehsender bekam!). Ich muss diese Bücher dann wohl mal bei meinen Eltern suchen… :D
Ich scheine schon als Teenager komisch gewesen zu sein. Beverly Hills 90210 war mir ebenso supsekt wie Diddle Aufkleber, New Kids on the block fangirling und Musikvideos. Schon lustig, dass ich das alles durchaus wiedererkenne, aber es bei mir das Gefühl auslöst: „Ihr lacht jetzt, ich fands schon damals entsetzlich oberflächlich“. Ich war, glaube ich, eine ziemliche Außenseiterin ohne mich wirklich so gefühlt zu haben. Sport sei dank.
Beverly Hills habe ich geliebt, aber ich habe doch lieber die Oldieshow auf Radio Köln gehört und konnte mit der ganzen aktuellen Popmusik wenig anfangen. Musikvideos lasse ich bei mir noch als popkulturelles Interesse durchgehen, tatsächlich war die Mischung bei Hit Clip ganz ordentlich, da kam nicht nur Unsinn.
Eine wirklich sehr schöne (Poesiealbum nahe) Sammlung. Beim Lesen kam mir nichtsdestoweniger der Gedanke, das die ganzen Fragen gar nicht so weit entfernt sind, von dem, was heute (also 10-20 Jahre später) in diversen Beziehungs-Anbahnungs-Portalen bei der Erstellung eines Profils verlangt wird.
Wie das dann so aus-geht:
http://www.programmwechsel.de/humor-lustige-witze/mann-frau/dating-portal-erfahrungs-bericht.html