Tagebuchbloggen, 21.07.2021 (über Aphantasie)

Gestern passierten tatsächlich Dinge, zum Beispiel haben wir Zeug aus dem Turmzimmer geräumt, dass ist ja nicht so unkompliziert, weil man mindestens zwei Leute dafür braucht, von denen einer auf dem Speicher sitzen und das Drahtseil für die Zugbrücke führen muss, ich erkläre das jetzt nicht weiter, es ist jedenfalls mit etwas Aufwand verbunden und gestern auch mit dem Zerstören einiger Spinnennetze.

Im Turmzimmer ist es weniger schlimm als befürchtet, aber schlechter als gut. Ich hatte es mir vollgerümpelter vorgestellt, es war so mittel vollgerümpelt. Der Hauptgrund für diese Aktion war, dass wir den alten iMac verkauft haben und die Originalverpackung suchten. Tatsächlich haben wir sie da auch gefunden, außerdem auch noch zwei kleine Weinregale, einen Schubladeneinsatz und diverse Kartons, die jetzt zum Altpapier kommen. Außerdem zwei Werkzeugkisten und die Koffer für Akkuschrauber und Bohrmaschine. Außerdem zwei Stuhlkissen, die ich zum Müll brachte und ein paar Bücher, die ich zum Bücherschrank brachte.


Eigentlich wolle ich aber über etwas anderes schreiben, nämlich über Aphantasie. Ich höre nämlich gerade alle Folge des Tropenhaus-Podcasts und da ging es um Aphantasie, es wurde nämlich über Yoon Ha Lee, dem Autor von „Ninefox Gambit“ [Amazon-Werbelink] geredet, der hat das nämlich und ich eben auch.

Aphantasie ist bislang kein besonders erforschtes Phänomen, das meiste, was man dazu findet, sind also persönliche Berichte von Menschen, die sich unter dem Regenschirmchen dieses Begriffs wiederfinden. Ich erfuhr davon zum ersten Mal über den Online-Buchclub auf Goodreads. Wir lasen nämlich in dem Monat eben genau Ninefox Gambit und ich erzählte davon, dass ich enorme Schwierigkeiten hätte, mir die beschriebenen Szenen im Buch vorzustellen, weil alles sehr abstrakt war. Ich war unsicher, ob ich irgendwas wichtiges verpasst hatte oder ob das tatsächlich eine Eigenheit des Buches war. Es stellte sich heraus, dass es erstens nicht an mir lag und dass zweitens Yoon Ha Lee selber darüber geschrieben hatte, wie es ist als Autor Aphantasie zu haben und als ich dann das las, war es ein bisschen, als ob diverse Glühbirnen über meinem Kopf aufleuchteten. OH MEIN GOTT, APHANTASIE, DAS IST ES, DAS IST DAS, WAS ICH HABE! ICH BIN NICHT ALLEIN!

Ich musste also knapp 40 werden, bis ich erfuhr, dass ich beim Lesen nichts falsch mache, dass auch sonst nichts kaputt ist, sondern, dass es einfach ein Spektrum gibt, wie bildlich sich Menschen Dinge vorstellen können und ich bin auf dem Spektrum einfach relativ weit auf der einen Seite. Jahrzehntelang war ich irritiert, wenn Leute sich über Buchverfilmungen beschwerten, weil das in ihrem Kopf ganz anders aussah und fragte mich, ob ich einfach nicht richtig aufgepasst hatte beim Lesen. Die Antwort ist noch viel einfacher: Ich hatte mir einfach nichts vorgestellt beim Lesen. Das passiert bei mir nicht und bei anderen eben schon, aber das eine ist nicht besser oder richtiger als das andere, es ist schlicht anders.

Aphantasie wird schnell als „kann sich nichts bildlich vorstellen“ verstanden, das ist aber nicht richtig. Ich kann mir schon Dinge vorstellen, ich sehe Bilder in meinem Kopf, aber es sind dann eben vorrangig Dinge, die ich kenne. Ich kann mir einen Apfel vorstellen, weil ich weiß, wie ein Apfel aussieht, ich sehe regelmäßig Äpfel. Ich kann mir auch meine Mutter oder meinen Mann oder meinen Hund vorstellen. Ich mache sogar gelegentlich Rundgänge durch Orte oder Häuser, die ich sehr gut kenne und versuche mich an viele Details zu erinnern. Menschen mit Aphantasie träumen auch bildlich, ich kann ja gucken und habe Erinnerungen und mein Unterbewusstsein bastelt sich daraus fleißig absurde Geschichten zusammen. Ich kann mir mit viel Anstrengung sogar beim Lesen Bilder zusammenbasteln, das ist dann aber eine bewusste Handlung, die mich aus dem Lesefluss eher rausholt als reinzieht, es passiert nicht automatisch. Anders gesagt: Ich kann Bilder im Kopf reproduzieren, aber ich kann sie nicht neu kreieren.

Auf dem Spektrum der Aphantasie bin ich auch nicht ganz am Rand des Spektrum, ich sehe nicht gar nichts, aber es bleiben Blobs oder Schemazeichnungen. Am ehesten kann man sich das vielleicht als vage Ideen von Dingen vorstellen. Wenn also zwei Personen sich in einer Szene unterhalten, dann sehe ich grob personenförmige verschwommene Formen, die sich gegenüber stehen (oder wie auch immer die Situation gerade ist). Wenn Leute am anderen des Spektrums direkt Filmszenen sehen, sehe ich die erste grobe Skizze, die der Regisseur mit einem stumpfen Bleistift auf Papier gezeichnet hat. Kampfszenen gehen komplett an mir vorbei, ich verstehe die Worte, aber es ist mir völlig unklar, was ich bildlich damit anfangen soll. Landschaftsbeschreibungen gehen oft besser, weil ich da zumindest Anhaltspunkte in der Realität habe, aus denen ich mir was zusammenpuzzeln kann.

Aus diesem Grund finde ich Buchverfilmungen oft super hilfreich, es ist für mich eine Serviceleistung der Filmemacher, dass mir endlich jemand zeigt, wie ich mir etwas vorstellen könnte, das ist wirklich sehr praktisch. Ich habe ja auch nicht den Nachteil, dass ich mir diesen Charakter oder jenen Ort komplett anders vorgestellt habe, ich freue mich darüber, dass ich endlich mal Bilder zu den Worten sehe. Ich google auch regelmäßig Fan Art von Fantasy- oder Science Fiction-Büchern, wenn ich verstehen will, wie ich mir ein Fantasiewesen oder einen Außerirdischen vorzustellen habe.

In „on writing with aphantasia“ schreibt Yoon Ha Lee auch folgendes:

There are some weird side-benefits to this.  I am a wuss about watching certain types of violence/gore on the screen.  I had to bail out of a Hannibal vid recently not because the vid was poorly edited (it was gorgeously done) but because the violence freaked me out.  But I have a much higher tolerance for violence in prose format, because I can’t see what’s going on.  If I bail, it’s much likelier to be because the emotion is too intense, rather than the gore.

Exakt das gleiche ist bei mir auch der Fall. Ich kann supergut Horrorbücher lesen, bei Horrorfilmen verbringe ich die halbe Zeit unter der Decke oder gucke angespannt auf mein Smartphone. Das gleiche gilt generell für Gewaltszenen. Ich will das nicht sehen und wenn ich es lese, sehe ich es ja nicht, ich verstehe die Worte, aber sie setzen sich nicht zu einer bildlichen Szene zusammen. Ich finde auch das ein superpraktisches Feature meiner Aphantasie, denn sie bewahrt mich vermutlich regelmäßig vor schlechten Träumen.

Die wichtigste Erkenntnis für mich ist, dass ich nicht defizitär bin, denn das war jahrelang mein Gefühl. Ich wusste nicht, ob ich zu schnell lese oder zu oberflächlich oder ob mir irgendetwas fehlt, was alle anderen Menschen selbstverständlich haben. Als Mensch, der sich über seine Kreativität definiert, empfand ich es als sehr schmerzhaft, dass es mir an Fantasie mangeln könnte. Die Idee, dass es sich um ein Spektrum handelt, auf dem ich eben relativ weit am Rand sitze, dass es nicht grundsätzlich ein Mangel an Fantasie ist, sondern lediglich eine Unfähigkeit, sich erfundene Dinge automatisch bildlich vorzustellen, und dass es eben viele andere Leute gibt, denen es genauso geht, hilft mir sehr. Es freut mich auch, dass jedes Mal, wenn ich darüber schreibe, Leute mit „OH MEIN GOTT, DAS GIBT ES WIRKLICH! ICH BIN NICHT ALLEIN!“ reagieren und ich gebe dieses Wissen deswegen gerne weiter.

So. Bildungsauftrag hiermit für heute erledigt.

5 Antworten auf „Tagebuchbloggen, 21.07.2021 (über Aphantasie)“

  1. Danke! Oder auch: „OH MEIN GOTT, DAS GIBT ES WIRKLICH! ICH BIN NICHT ALLEIN!“
    Ich finde mich wirklich in jedem Punkt wieder. Allerdings sind es auch bei Gewaltszenen in Film und Fernsehen eher die Geräusche, die mich packen. Wenn ein:e Schauspieler:in Schmerz und Furcht überzeugend artikuliert, hilft nur noch Flucht aus dem Raum.

  2. Ich reihe mich mal ein: OH MEIN GOTT, DAS GIBT ES WIRKLICH! ICH BIN NICHT ALLEIN! Allein habe ich mich nie gefühlt, obwohl ich vermutlich zum äußeren Rand gehöre. Ich sehe gar nichts. Im Schlaftraum ja, aber wach … nichts. Ich denke und träume (im Sinne von Phantasieren) nur in Worten. Wenn ich versuche, mir etwas bildlich vorzustellen, sehe ich nur schwarzgraue Schemen oder Schatten. Wobei „versuchen“ schon euphemistisch ist, es wird immer ein Zwingen, und trotzdem klappt es nicht.

    Es belastet mich aber nicht, weil ich es nicht anders kenne. Ich hatte auch schon vor einiger Zeit herausbekommen, dass es einen Fachbegriff dafür gibt, aber habe das nicht weiter verfolgt.

    Ich vermisse die Vorstellungskraft nur beim Masturbieren. Visuelle Reize sprechen mich stark an, aber die kann ich mir leider nicht selbst erschaffen.

  3. Findet eigentlich noch jemand den Begriff “Aphantasie“ irreführend? Ich stelle mir andauernd alles mögliche vor. Nur eben nicht bildlich.

  4. Ach wie cool, danke! Ich war sehr irritiert, als ich feststellte, dass sich Lesende die Charaktere bildlich vorstellen, weil ich das nie tue. Ich vergesse auch grundsätzlich jede Beschreibung, wenn sie nicht super prägnant ist, weil ich sie ja nicht bildlich verinnerliche.
    Dabei bin ich ansonsten eine absolute Träumerin und imaginäre ständig Dinge. Nur das halt nicht.

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